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Wer war Friedrich Christoph Oetinger

FRIEDRICH CHRISTOPH OETINGER

von Guntram Spindler

Die Person und das Werk Oetingers haben zu allen Zeiten zwiespältige Beurteilungen erfahren. Das zeigt sich schon an den Rezensionen seiner Schriften zu Lebzeiten, und davon legen seine Selbstbiographie sowie seine Briefe ein deutliches Zeugnis ab. Doch auch in der Zeit danach bis zum heutigen Tage haben Gestalt und Werk, nun mit Schwerpunkt auf letzterem, einerseits wohlwollende, ja überschwengliche, und andererseits kritische Charakterisierungen herausgefordert.

Sie reichen von dem Titel "Magus aus Süden" (I. A. Dorner) und dem Prädikat "der genialste Theologe Württembergs" (A. Ritschl) bis zu der Wertung Oetingers als einen, der sich auf einem Nebenweg verschwendet (E. Hirsch). Auch die Akzentuierung dessen, was Oetinger nun eigentlich mit seinem Werk beabsichtigt habe und worin das Zentrum sowie das Ziel seiner Gedanken zu sehen sei, wird von denen, die sich mit ihm beschäftigt haben, ganz unterschiedlich gesetzt. Die verschiedenen Stellungnahmen zu ihm hängen natürlich vom jeweiligen philosophischen oder theologischen Standpunkt des Urteilenden ab, sie sind aber so oder so doch in der Originalität und Außergewöhnlichkeit seiner Person und seines Werkes begründet, und sie stellen diese auch fast immer heraus. Unbestritten ist jedoch seine grundsätzliche geistesgeschichtliche und wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung und sein offenkundiger - und mehr noch verdeckter - Einfluss auf viele Gelehrte und vor allem "Ungelehrte" seines Jahrhunderts und der Zeit danach. Einige Namen stehen hier für viele: Schelling, Hölderlin, Goethe, F. v Baader, G. H. v. Schubert, R. Rothe, J. T. Beck. Besonders von der Mitte des vergangenen Jahrhunderts an werden Oetinger und seine Lehre dann aber vor allem auch wieder auf der Ebene des Erbaulichen präsentiert und rezipiert, üben aber gerade damit eine bedeutende Wirkung aus. Und noch heute wird in pietistischen Kreisen vor allem Württembergs, und hier wiederum besonders in der "Hahnischen Gemeinschaft", deren Gründer Michael Hahn stark von Oetinger beeinflusst ist, dieser "Schwäbische Vater" hoch, und es werden seine Schriften, in erster Linie die Sammlungen seiner Predigten, weiterhin gern gelesen.

Oetinger hat im Laufe seines Lebens eine große Zahl von Büchern geschrieben, und er hat die meisten davon auch veröffentlicht oder in der Zeit, als er wegen seines - eingeschränkten - Eintretens für Swedenborg vom Konsistorium mit einem Veröffentlichungsverbot belegt worden war, von anderen veröffentlichen lassen. Auch nach seinem Tod sind vor allem seine Predigtsammlungen und seine Selbstbiographie immer wieder gedruckt worden, aber auch das Interesse an den sonstigen Schriften, und somit an seinem Gesamtwerk, ist nie ganz erloschen. Die Werke Oetingers sind ihrem Inhalt nach sehr verschiedenartig. Sie beschäftigen sich neben so vertrauten Gebieten wie Philosophie in einem umfassenden Sinne, Theologie, "Physik", Recht, Politik, Exegetik, Homiletik, Katechetik, Rhetorik, Musik und Medizin auch mit solch einigermaßen außergewöhnlichen Gegenständen wie Kabbala, Alchemie, Hermetik, Emblematik, Elektrizitätslehre und Physiognomik. Es ist ein Reichtum des Wissens der damaligen Zeit, der in diesen Schriften ausgebreitet wird, und es versetzt einen immer wieder in Erstaunen, wie Oetinger neben seinen Amtsgeschäften eine solche Vielzahl oft seltener, weitab von Württemberg erschienener Bücher lesen und verarbeiten so wie auch selbst so zahlreiche, z. T. umfangreiche Abhandlungen verfassen konnte. Die Vielfalt der Gegenstände und Bezugnahmen in Oetingers Werken hat immer wieder dazu verführt, ihn als einen bloßen Polyhistor und Eklektiker anzusehen und abzutun. Diese Wertung wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass seine Ausführungen abgesehen von der Schwierigkeit der Materien - oft unsystematisch dargeboten werden, seine Begrifflichkeit als "bildlich verpuppt" (R. Rothe) und seine Schreibart häufig dunkel und eigenartig schwebend erschien. Bei genauem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Oetinger nicht einfach unzusammenhängende Stoffmassen anhäuft, sondern dass dieses Heranziehen so vielfältigen Wissens einem bestimmten Ziel dient, von dem her es seine sinnvolle Ausrichtung erhält, und dass er zwar tatsächlich nach herkömmlichem Verständnis kein System anbietet, vielmehr in einer Art von Verschachtelung denkt und schreibt, seine oft weit voneinander entfernten Aussagen aber meist sehr wohl eine Verbindung zueinander haben und gemäß einer inneren Systematik einander zugeordnet und zuordenbar sind. Auch seine bildliche und symbolhafte oder "emblematische" Sprache ist nicht Ausdruck von Unvermögen oder einer Attitude des Esoterikers, sondern sie erhält ihren Sinn von Inhalt und Absicht seines Denkens und Schreibens her. Nichtsdestoweniger ist in der Tat gerade dadurch, aber vor allem auch wegen seiner an Böhme orientierten und oft alchemistischen Begrifilichkeit, der Zugang zu seinen Schriften und das Verständnis seiner Vorstellungen nicht leicht. In wie weit aber das "Geweb" seiner Gedanken, wie er sein "System" gerne bezeichnet, für uns heute überhaupt noch Bedeutung haben kann, die über ein geistesgeschichtliches oder erbauliches Interesse hinausgeht, das ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage.

Friedrich Christoph Oetinger, der am 6. Mai des Jahres 1702 als Sohn des Stadt- und Amtsschreibers in Göppingen zur Welt kam, wurde in eine Zeit hineingeboren, deren Fragestellungen und Umbrüche bekanntlich z.T noch in unser Zeitalter hineinwirken. Die Einheit und Ganzheit der Philosophie, die noch einen Großteil der späteren Einzelwissenschaften und auch die Theologie, zumindest in Form der "natürlichen Theologie", umfasst, beginnt sich immer mehr aufzulösen. War noch bei Chr. Wolff, der zusammen mit Leibniz das dominierende philosophische System zu Oetingers Zeit darbot, die "Welt-Weisheit" als "eine Wissenschaft aller mögllchen Dinge, wie und warum sie möglich sind" ("Deutsche Logik", Vorb. v. d. Welt-Weisheit", õ 1), definiert worden und hatte demnach neben Logik und Metaphysik, Ethik und Teleologie auch noch Mathematik, Physik, Physiologie, Ökonomie und Recht umschlossen, so zerfällt dieses Gesamtsystem in der folgenden Zeit immer mehr in seine Einzelteile, und besonders die Naturwissenschaften verseibständigen sich immer mehr. Zugleich ist die Philosophie schon längere Zeit keine "Magd" der Theologie mehr. Zwar wird z.B. von Wolff innerhalb seiner Metaphysik noch eine ausführliche, allerdings eben nur auf die Vernunft gegründete "Theologia naturalis" geboten und auch sonst mehrfach ausdrücklich betont, dass Vernunft und Heilige Schrift sich nicht widersprechen könnten (etwa in der Widmung zur "Deutschen Teleologie"); doch faktisch ist bei ihm, wie auch schon bei Leibniz, trotz aller redlichen Bemühungen die Diskrepanz zwischen Vernunft und Offenbarung schon da, und sie wird in der Folgezeit ja immer größer. Es wird nicht nur die Vernunft immer mehr der Maßstab für die Relevanz der Offenbarung, sondern die Philosophie wird nun ihrersefts mehr und mehr zur Grundlegung der Theologie herangezogen - gewiss auch gerade deshalb, um diese auf der Höhe der Zeit zu halten und der neuen Zeit anzupassen.

Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist der frühe Wolffianer und spätere Tübinger Professor I. G. Canz (1690-1753) mit seinem seit 1728 erscheinenden Werk "Philosophiae Leibnitianae et Wolfianae usus in Theologia", der die Vereinbarkeft der Leibniz'schen und Wolff'schen Philosophie mit allen Dogmen des Christentums und ihren Nutzen für deren Begründung nachweisen wollte. Oetinger hat sich mit ihm mehrmals mündlich und schriftlich z.T. sehr scharf auseinandergesetzt. Was die Theologie selbst betrifft, so wurde sie - und damit die Interpretation der Heiligen Schrift - aufgrund solch philosophischer Einwirkung, aber auch durch die allgemein immer mehr hervortretende Dominanz der Vernunft, immer mehr "rationalisiert" und - als besondere Folge davon - auch immer mehr ethisiert bzw. moralisiert. Schließlich tritt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der Mensch als Individuum immer mehr in den Mittelpunkt des philosophischen Interesses. Dies war allerdings für die Vertreter der pietistischen Richtung der Theologie nicht etwas eigentlich Neues. Ein solches Interesse war von ihnen in einer bestimmten Form schon immer gewahrt worden, und so waren für sie gerade aus theologischen Gründen, nämlich mit Blick auf Bekehrung und Wiedergeburt, die Beschreibungen des Lebens wichtig geworden.

Oetinger absolvierte nach strenger häuslicher Erziehung die klassische Ausbildung für den höheren geistlichen und weltlichen Dienst in Württemberg. Er besuchte die herzoglichen Klosterschulen; zuerst das niedere Seminar in Blaubeuren (1717- 20) und dann das höhere in Bebenhausen (1720-22) nahe Tübingen, dem Sitz der Landesuniversität. In Bebenhausen hatte er nicht nur Canz zum Lehrer, sondern von dort aus unterhielt er auch schon enge Verbindungen zu dem damaligen Professor der Philosophie G. B. Bilfinger, der ebenfalls ein Anhänger der Philosophie von Leibniz und Wolff war.

Nachdem er sich nach einigem Schwanken gegen ein juristiches Studium und für die Theologie entschieden hatte, bezog er das "Fürstliche Stipendium" in Tübingen. Nach einem intensiven und vielfältigen Studium wurde Oetinger im Jahre 1725 Magister. Er zögerte die Bewerbung um ein Amt in der Kirche seines Heimatlandes hinaus und begab sich statt dessen auf eine Reise, die ihn unter anderem nach Frankfurt/M., Berleburg, Jena, Halle und Herrnhut führte (1729-30).

In Halle nahm er wieder Verbindung mit A. H. Francke auf und bekleidete sogar eine Zeitlang eine Lehrerstelle an dessen Anstalten. In Herrnhut, wo er seine erste Schrift, die "Aufmunternden Gründe zur Lesung der Schrifften Jacob Boehmens", schrieb, wurde er vom Grafen Zinzendorf selbst gedrängt, in den Dienst von dessen Gemeinschaft zu treten. Oetinger wich aber diesem Angebot aus und kehrte nach Tübingen zurück. Nachdem er von 1737 an seinen Verpflichtungen als Repetent am "Stift" nachgekommen war, trat er im Frühjahr 1733 eine neue Reise an. Sie führte ihn unter anderem wieder nach Herrnhut, nach Holland, Berlin, Halle und Homburg v.d. Höhe.

Sein schon von Anfang an kritisches Verhältnis zu Zinzendorf führte nach dem zweiten Besuch in Herrnhut zur endgültigen Absage an diesen und seine "Gemeine". Schon in Halle hatte er auch Medizin studiert und in Homburg unter Anleitung praktiziert. Nach erneuter Tätigkeit als Repetent (1737-38) entschloss er sich, nun endlich in den Kirchendienst zu treten, wobei er beim Konsistorium aufZurückhaltung traf. Weil er sich am Anfang vor einem zu umfangreichen Amt fürchtete, übernahm er 1738 die kleine Pfarrei Hirsau im Schwarzwald. Er tat dies auch in der Erwartung, dadurch mehr Freiheit zu haben, um weiterhin der Wahrheit nachspüren zu können. Im selben Jahr hat er dann nach einigem Zögern auch geheiratet. Danach hat Oetinger seine engere Heimat nicht mehr verlassen.

Im Jahre 1743 ging er von Hirsau nach Schnaitheim (bis 1746) und dann nach Walddorf bei Tübingen. Von 1752 bis 1759 sehen wir ihn als Dekan in Weinsberg, von 1759 bis 1766 im selben Amt in Herrenberg. Schließlich wurde er auf Betreiben seines Landesherrn, Herzog Karl Eugen, der sich von seinen alchemistischen Kenntnissen einige Nutzen versprach, noch Prälat in Murrhardt (1766). Auch noch als solcher hatte er Schwierigkeiten mit dem Konsistonum. Doch wer das Werk Oetingers kennt, der kann schon verstehen, daß es für dieses Gremium nicht leicht war, es mit der normativen Lehre der württembergischen Landeskirche der damaligen Zeit in Einklang zu bringen. In seinen letzten Lebensjahren wurde Oetinger immer schweigsamer und kindlicher. Er starb am 10. Februar 1782 und wurde in der Klosterkirche zu Murrhardt beigesetzt.

Auch Oetinger hat schon frühzeitig versucht, die Theologie mit der Philosophie zu verbinden, ja zu vereinen und damit zugleich jener ein gültiges philosophisches Fundament zu verleihen. Er hat dies zuerst nach dem Vorbild von Zeitgenossen wie Bilfinger und Canz mit der Welt-Weisheit des Leibniz und Wolff versucht, mit der er sich schon als Student, nicht zuletzt unter deren Einfluss, gründlichst beschäftigt hatte. Obwohl er schon bald in Zweifel geriet, ob dies möglich sei, hatte er noch gegen Ende seiner zweiten Reise die Absicht, zu Wolff nach Marburg zu reisen. Der entscheidende Grund für die schließliche Ablehnung und spätere z.T. erbitterte Bekämpfung der Philosophie des Leibniz und Wolff lag aber dann in der Uberzeugung, dass sie nicht dem "philosophischen" und damit dem davon abhängigen theologischen "System" der Heiligen Schrift entspräche, und dadurch zu einer Verfälschung des "Gesamt-Systems" der Schrift führte; vor allem aber auch darin, dass sie mehr und "höhere" Erkenntnis verspräche als es dem Prinzip der Nützlichkeit gemäß und der Geltung des christlichen Glaubens zuträglich wäre. Oetinger differenzierte dabei durchaus zwischen Leibniz und Wolff, sah aber doch letztlich in dessen Philosophie eine fortführende Systematisierung des Leibniz'schen "Systems". Schon vor der endgültigen Verwerfung der zentralen Lehren beider Philosophen und ihrer genuinen Schüler, und erst recht danach, bilden diese gleichsam die Folie für seine Aussagen. Das gilt grundsätzlich auch für die späten Jahre, als Oetinger vor allem auch gegen die zeitgenössische Theologie in Gestalt der sog. Neologen (J. S. Semler), besonders gegen deren Berliner Vertreter (A. F. W. Sack, J. J. Spalding, W. A. Teller), und gegen die radikalen "Naturalisten" wie K. F. Bahrdt polemisierte. Denn auch dabei bezieht er sich immer wieder auf die Lehre und die "demonstrierende" Methode von Leibniz und Wolff; vor allem aber sieht er die von ihm bei jenen Theologen festgestellte und bekämpfte - wirkliche oder vermeintliche - Bevorzugung der Vernunft gegenüber der Offenbarung. die daraus sich ergebende "Rationalisierung" und Moralisierung sowie das damit verbundene umdeutende, abstrahierende und "verblümte" Verständnis der Schrift in Form der Entleerung von deren "sinnlichen" und "körperlichen" Aussagen als eine Folge jener Philosophie an. Im einzelnen sind die Gründe für diese von ihm gesehene Verbindung vielfältig. Das Hauptmotiv ist jedoch in der Definition der Körper als "(wohlbegründete) Erscheinungen" bei Leibniz und Wolff zu sehen, die Oetinger radikal ablehnt; stellt sie doch für ihn - aufgrund eines vergröberten Verständnisses - als Ausdruck des wiedergekehrten Cerinthianismus bzw. des gegenwärtigen "Idealismus" die Realität der Leiblichkeit in Frage und hat deshalb in seinen Augen verderbliche Konsequenzen nicht nur für die Philosophie (Kosmologie, Anthropologie), sondern vor allem auch für die Theologie (Gotteslehre, Christologie, Soteriolngle, Eschatologie), und somit eben auch für das richtige, d.h. "reale" und ,massive", aber letztlich dann doch wieder "spirituale", "geistleibliche" Verstehen der Schrift. Aber auch nach dem Bruch mit der Philosophie des Leibniz und Wolff blieb Oetinger seinem Vorhaben treu, Welt-Weisheit im umfassenden Sinne bzw. als Wissenschaft mit der Theologie zu verbinden und so zu einem Gesamtsystem der Wahrheit über alle möglichen, oder doch wenigstens alle wirklichen Dinge zu gelangen. Weil er aber meinte, dass die Anwendung der Leibniz-Wolff'schen Philosophie den Zusammenhang der Schrift verfälschte und so deren ,philosophisches" und das darauf beruhende theologische "System" entstellte, wollte und "musste" er nun bei sich selbst und bei anderen nach Welt-Weisheit suchen, die derjenigen der Schrift entsprach. Dies ist denn auch - neben dem Vertrauen auf die Allgegenwart der die Schöpfung vorabbildenden Weisheit der wesentliche Grund für seinen Eklektizismus. Zugleich konnte aber die Philosophie des Leibniz und Wolff, weil sie ja mit derjenigen der Schrift nicht übereinstimmte, auch in sich selbst betrachtet, überhaupt nicht die richtige und wahre Welt-Weisheit sein, zumal sie seiner Meinung nach auch dem widersprach, was in und aus der Weltwirklichkeit mit den natürlichen Erkenntnismitteln zu erfassen war. So wollte Oetinger nicht nur die Einheit aller Wissenschaften bzw. die aller Wahrheiten überhaupt festhalten, seien sie nun auf natürliche Weise oder durch Offenbarung gewonnen, sondern er wollte vor allem auch die Sonderrolle der Heiligen Schrift als Quelle aller Wahrheit bewahren. Wenn die "Philosophie" der Schrift als die wahre Welt-Weisheit überhaupt fiel, so fiel für ihn auch die darauf begründete Theologie und damit deren eigentlicher Gehalt. Die Beachtung dieses apologetischen Interesses Oetingers als Grundantrieb seines Denkens und Schreibens ist deshalb eine wesentliche Voraussetzung für das richtige Verständnis seines "Systems"und seiner darin zum Audruck kommenden Intentionen. In formaler Hinsicht hat jenes von ihm erstrebte Ganze aller möglichen wahren Erkenntnis, diese Einheit von Philosophie, Theologie und allen Wissenschaften als eine Art von ,philosophia christiana", die sich genauer besehen als ein Ineinander von "Naturgeschichte", Weltgeschichte und Heilsgeschichte erweist, dann aber die Gestalt einer Zuordnung bzw. Verschachtelung von - vor allem - Gotteslehre, "Ontologie", Kosmologie bzw. Kosmogonie, "Physik", Anthropologie, Psychologie, Ethik und "Politik" sowie von Christologie, Soteriologie mit besonderer Betonung der Sakramentslehre, Ekklesiologie und Eschatologie. Oetinger folgt dabei einer Linie, die in ähnlicher Weise auch dem Gesamtwerk Böhmes inneliegt. Ausgangspunkt und Grundlage dieses Gesamt-"Systems" in materialer Hinsicht ist bei ihm der stufenweise Prozess der Selbstoffenbarung Gottes, der sowohl in der unsichtbaren als auch in der sichtbaren Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Eingebettet in diese Art von göttlicher "Naturgeschichte" und der mit ihr verwobenen Weltgeschichte findet sich dann die Heilsgeschichte oder die ganze "Oekonomie" des Heils.

Strukturiert und differenziert und zugleich letztlich zusammengehalten wird das ganze "System" aber durch die "Idee des Lebens", die sich dabei auch wieder in

Neben dem "Buch der Gesellschafften", demjenigen des Gewissens und den "äußeren Schickungen Gottes" sind dies vor allem die Natur oder die "Werke Gottes" und die Heilige Schrift. Letztere interpretieren sich gegenseitig. Mit dieser Vorstellung, bei der sich unter anderem der Einfluss Böhmes, J. Arndts und der Physikotheologie zeigt, stand Oetinger natürlich im deutlichen Gegensatz zu jenen Philosophen. Für sie, wie ja schon für Spinoza, war die Schrift keine Quelle philosophischer Erkenntnis mehr. Bei Oetinger ist aber nicht nur die Schrift auch Erkenntnisquelle für die (wahre) Philosophie; vielmehr sind umgekehrt die "Werke Gottes" sowohl Erkenntnisgrund für die Gegenstände der Weltweisheit als auch für solche der Theologie, und das nicht nur hinsichtlich der Gotteslehre. Der Schwerpunkt bei diesen korrelativen Verhältnis zwischen Natur und Schrift liegt aber dann doch bei den letzteren, die nach Oetinger ein "reelles System" darstellt, "worinnen alles in einem jeden, und jedes in allem enthalten ist". Die Schrift als "Gebäu und Gewebe", deren Teile immer in "Connexion" mit dem Ganzen ausgelegt werden müssen, hat kein "mathematische Lehr-Art", wie Oetinger die Einheit von mathematischer und philosophischer Methode der Erkenntnis und Lehre bei Wolff nennt, sondern sie hat eine "generative, pflantzende, wachsthumliche Art", und sie ist "sinnlich", "massiv" und "körperlich" zu verstehen, denn "Gott will, dass weil in Christo die Gottheit leibhaft wohnet, alles Geistliche im Leiblichen seine Subsistenz habe; daraus müssen die massive Ideen des A. und N. Testaments erklärt werden" ("Inbegriff der Grundweisheit" - S. 40).

In der Inkarnation als zentralem Heilsgeschehen sieht Oetinger aber nicht nur das Fundament der rechten Schrifterklärung, sondern auch einen wesentlichen Grund für die Wahrheit, dass "cörperlich seyn keine Unvollkommenheit" sondern vielmehr "eine Vollkommenheit" ist (aaO, S. 42 f.).

Bei den Mitteln für die Erkenntnis der Wahrheit konzentriert sich Oetinger auf de "Sensus Communis", das "allgemeine Wahrheits-Gefühl aller Menschen". Er stützt sich bezüglich der - immer nur annähernden - Bestimmung dieses "Sensoriums" zwar auch auf die Tradition, die diesem Begriff schon verschiedene Bedeutungsinhalte zugeordnet hatte, gibt ihm aber doch eine eigenständige Fassung. Im Hintergrund steht dabei - und hier gehört Oetinger zur Avantgarde seiner Zeit - die Einschätzung des Fühlens als einer selbständigen Grundkraft des Seelischen, womit er sich wiederum vor allem zu Wolff und zu Leibniz im Gegensatz befindet. Gegenüber deren Hochschätzung des Verstandes und der Vernunft als den entscheidenden Mitteln der Erkenntnis der Wahrheit sowie der damit verbundenen - relativen - Abwertung der (äußeren) Empfindung, betont der naive Realist Oetinger - auch unter dem Einfluss von Locke und Bacon - nicht nur die Unabdingbarkeit der Empfindung und der damit verbundenen Erfahrung für die wahre Erfassung der Weltwirklichkeit und anderer Gegenstände, sondern eben auch die Bedeutung des Gefühls. Der "Sensus Communis" ist aber nicht Ausdruck der Irrationalität, sondern vielmehr "erkennendes Gefühl", das sich auf alle Objekte der Weltweisheit und auch auf solche der Theologie bezieht, besonders aber auch das "gemeine Leben" sowie das Leben der Welt und deren letztlich in Gott begründete "Principien" oder "Kräfte" zum Gegenstand bzw zum Inhalt hat. Dieses "allgemeine Gefühl", das der in Natur und Geschichte sich manifestierenden Weisheit antwortet, ein Residuum des adamischen Erkenntnisvermögens darstellt und mit Hilfe der Schrift bis zu einem gewissen Grade wieder an dieses herangeführt werden kann, hat "Empfindung" (Gefühl) und "Erkenntnis" (vernünftiges Denken) "in einander". Die vollkommene Form des "Sensus Communis", der als Intuition dem "Verstande" Böhmes ähnelt, ist dann die "Central-Erkänntniß", die von Oetinger in Aufnahme einer Aussage des älteren van Helmont als vollständige Verwandlung der Natur des Erkennenden in die des Erkannten bestimmt wird. Diese "cognitio centralis", die er in seiner "Inquisitio in sensum communem "als "innerste Empfindung der Prinzipien im Mark der Dinge" definiert, wurde und wird zwar auch schon in diesem Aeon manchen - wie z.B. Böhme - von Gott geschenkt; sie ist aber recht eigentlich das Erkenntnisvermögen am Ende der Zeiten, kann es doch auch die Weise genannt werden, "mit der die Engel erkennen".

Oetingers Methode der Erkenntnis, und das betrifft vor allem die Lehre von der Natur, ihrem Leben und ihren "Begebnissen", wird von ihm - sehr wahrscheinlich in Ableitung von Newtons Gebrauch des Wortes "phaenomenon" - "Phaenomenologische Denckungs-Art" genannt. Diese Methode der "alten Philosophen", besonders des Hippokrates, die er der "geometrischen oder tiefmechanischen" bzw. "künstlichen Gedenckungs-Art" der zeitgenössischen Philosophie, letztlich "um der Theologie willen", entgegenstellt, "steigt aus unzehlig vielen gemeinen und allen Menschen möglichen Erfahrungen in allgemeine Sätze auf". Es ist klar, dass bei dieser Methode der "Induktion" auf die Mitwirkung des Intellekts bzw. der Ratio nicht verzichtet werden kann. Und so wird denn auch von Oetinger trotz seines erbitterten Kampfes gegen die seiner Meinung nach bei Leibniz und Wolff dominierende apriorische Erkenntnisweise, die für ihn nicht nur zu einer falschen, weil abstrakten und "statischen" Gotteslehre, Ontologie und Psychologie, sondern auch zu einer mechanistischen, das Leben und seine Kräfte negierenden Kosmologie bzw. Naturlehre führt, dem Verstand und der Vernunft ein nicht unwesentlicher Part zugestanden. Vor allem seit den fünfziger Jahren hat Oetinger sich dann, wiederum unter Aufnahme älterer Traditionen und in Ablehnung des Primates von bloß deutlichen Begriffen sowie logisch richtigen Sätzen und Schlüssen als Mittel bzw. Ausdruck der Wahrheitserfassung bei Leibniz und Wolff, immer mehr um ein "emblematisches" Verständnis der Welt und der Schrift bemüht. Mit Rückgriff auf den Grundgedanken der Signaturenlehre Böhmes, wonach das "Innere", Unsichtbare der Dinge durch das Äußere, Sichtbare dargestellt wird und umgekehrt "die Signatur des eussern ais ein Bild alles innern" anzusehen ist, will er unter Hinzufügung bestimmter Elemente der Lehre von den Entsprechungen bei Swedenborg sowie von solchen der klassischen Emblematik eine "Theologia emblematica" erstellen. Weil "Emblema ... ein aus den sichtbaren Geschöpfen genommenes Bild (ist), welches theils unsichtbare, theils andere sichtbare Dinge bezeichnet" ("Metaphysik in Connexion mit der Chemie" - S. 18), ist es seiner Meinung nach bis zu einem gewissen Grade nicht nur möglich, aus der als Bild verstandenen Schöpfung "das Unsichtbare zu ersehen" bzw. "die ewige Kraft und Göttlichkeit aus der Natur zu erblicken", und so "das Wesentliche der unsichtbaren Welt" zu erfassen, sondern es kann mit den ais "Emblem bzw. "Sinnbild" genommenen Dingen der Welt und "Begriffen" der Schrift die ganze Selbstoffenbarung Gottes und seine Wirkung in Schöpfung und Geschichte samt deren "Kräften", einschließlich der Oekonomie des Heils, gedeutet, ja "erkannt" werden. Nun hat aber Oetinger die meisten Vorstellungen seines "Systems" faktisch nicht gemäß seiner eigenen Erkenntnislehre gewonnen, sondern von andere übernommen, wobei er sie häufig um formt. Zum Teil bieten diese seine "Quellen" tatsächlich Erkenntnisse, die aufgrund der (gemein)empirischen Methode, die er propagiert hat, erlangt worden sind, wie diejenigen des von ihm hoch verehrten Hippokrates, wie die Newtons und auch Böhmes, zum Teil handelt es sich aber auch um "Erkenntnisse", die "aus dem höchsten Verstand", d.h. der Zentralschau, stammer wie im Falle der Kabbala und Böhmes. Doch aus diesem ist auch die Heilige Schrift geschrieben worden. So ist denn auch Böhme, mit dem Oetinger sich fast sein ganze Leben lang beschäftigt hat und den er "in deutlichere Sätze" bringen wollte, in Zusammenschau mit Newton - trotz einiger Vorbehalte - derjenige, welcher die Schrift bzw. ihr "System" am besten interpretiert.

Unter den vielen anderen "Quellen", deren sich Oetinger faktisch bedient hat, soll neben Bengel und Postell nur noch die Alchemie hervorgehoben werden, die für ihn die entscheidende Hilfe für die Erschließung und Beschreibung des Lebens der Weltwirklichkeit und seiner "Kräfte" darstellt, sich damit aber auch als unentbehrlich für die Gestaltung der "Theologia emblematica" und die Erhellung des "wahren (Gesamt)-Systems" der Schrift erweist.

Im Mittelpunkt dieses aus vielerlei übernommenen Vorstellungen geformten "Systems" Oetinger's steht die alles begründende Offenbarung Gottes, der wesentlich nicht nur "actus purissimus", sondern "Ens manifestativum sui" ist. Im Blick auf das Wesen dieser Selbstoffenbarung formt Oetinger dann durch Kombination der - dem kabalistischen Hauptwerk Sohar entnommenen - zehn Sephirot oder ,Abglänze" mit den sieben "Qualitäten" Böhmes bzw. den "'übermechanischen" Kräften Newtons sowie Aussagen Ezechiels (aus Kap. 1 und 10), der Apokalypse (die "sieben Geister" aus Apk. 4,5) und des Jakobus ("Rad der Geburt" nach Jak. 3,6) eine "dynamische" Ontologie, und damit verknüpft, eine ebensolche Kosmologie, welch die in jenen Potenzen begründeten "übermechanischen Selbstbewegungs-Kräfte" des Lebens gegen die Monaden des Leibniz und die "einfachen Dinge" Wolffs stellt. Da jene Potenzen als ein "unauflößliches Band von Kräfften" aber das Leben Gottes ausmachen, von dem das Leben der Kreatur "als von seiner Ursache "zwar letztlich abhängt, aber als "auflößliches Leben" zugleich eine ganz andere Qualität hat, kann Oetinger von dieser "Idee des Lebens (Gottes)" her nun auch seine ganze Theologie entfalten. Denn das "Hauptgeschäft" Jesu Christi als des Hohenpriesters und "Lebendigmachers der Natur", und d.h. die Erlösung, besteht dann "in der Wiedervereinigung des geistlichen Lebens mit dem naturlichen"; das der Möglichkeit nach auflösliche, durch den Sündenfall tatsächlich verlorene, auf Gott ausgerichtete "geistliche" Leben wird als ewiges, unauflösliches Leben (Gottes) dem gerechtfertigten Menschen wieder bzw. neu mitgeteilt. Diese Mitteilung geschieht "zuerst moralisch - und danach - vor allem durch Taufe und "Nachtmahl" - "physisch", d.h. auf geist-leibliche Weise. Das Erlösungswerk Christi wird von Oetinger so in einer "naturhaften" und kosmischen Art gefasst, und er bedient sich dabei oft einer alchemistischen Begrifflichkeit. Endziel der Heilsgeschichte und der - zeitlichen - Offenbarung Gottes, und d.h. von dessen "Werken" ist dann denn auch - nach dem wohl bekanntesten Wort Oetingers - (geistliche) "Leiblichkeit" in Form des neuen Jerusalems bzw. des neuen Himmels und der neuen Erde ("Biblisches und emblematisches Wörterbuch" - S. 407).

Ungefähr zehn Jahre vor seinem Tode sah Oetinger, "dass meine Lehre von der Schriftphilosophie aufschießt wie ein Reis . . . aus dürrem Erdreich" (Oetinger: Selbst-Biographie, hrsg. Von Julius Hamberger, S. 98). Im Rückblick fällt es nicht leicht, diese hoffnungsvolle Feststellung, so wie sie von Oetinger gemeint war, zu bejahen. Andererseits ist jenes Reis auch nie abgestorben, und es ist zu hoffen und zu wünschen, dass Oetinger's Werk, weniger in dem, was darin tatsächlich ausgeführt wird, als in dem, was an Fragestellungen und Intentionen darin zum Ausdruck kommt, noch manch "notwendiges und nutzliches " bewirke.

Quelle: Zum Himmelreich gelehrt : Friedrich Christoph Oetinger 1702-1782 ; württembergischer Prälat, Theosoph und Naturforscher ; eine Ausstellung von Eberhard Gutekunst und Eberhard Zwink in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart ; vom 30. Sept. bis 26. Nov. 1982. - Stuttgart 1982, S. 1-9.


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