Henri Estienne in seiner Ausgabe einer griechisch-lateinischen

Bibelkonkordanz von 1594:

Vorrede und Rechtfertigung der Verseinteilung im Neuen Testament 1551

durch seinen Vater Robert Estienne mit Übersetzung

Henricus Stephanus lectori.

 

Henri Estienne an den Leser

Robertum Stephanum parentem meum, literarum bonarum bono natum esse, testati sunt multi, ac testantur quotidie quamplurimi; et omnibus tacentibus res ipsa id clamet. Sed tamen multa in sacras pariter literas (sive Hebr[aico], sive Graeco, sive Latino, sive Gallico mandatas sermoni) et profanas, praestitit, ut siquis operam ab eo in unas navatam cum ea quam in alteras navavit conferat, de utris melius meritum dicere oporteat, in dubio fortasse relicturus sit; quum alioqui nulla dubitatio de hoc relinquatur, quin de sacris melius mereri cupiverit.

Dass mein Vater Robert Estienne mit großer Gelehrsamkeit begabt war, haben viele bestätigt und bestätigen die allermeisten heute noch. Und sollten alle schweigen, die Sache selbst spräche für sich. Aber er zeichnete sich in den heiligen Schriften (ob sie in hebräischer, griechischer, lateinischer oder französischer Sprache standen) ebenso aus wie in der weltlichen Literatur so sehr aus, dass jeder, falls er den Dienst, den [Robert Estienne] der einen Sparte erweisen hat mit demjenigen für die andere Sparte vergleicht, vielleicht im Zweifel bleiben wird, in welcher von beiden Sparten ihm das größere Verdienst anzurechnen sei, obwohl andererseits kein Zweifel darüber besteht, dass er sich selbst wünschte, sich eher um die heiligen Schriften verdient gemacht zu haben.

Ultimum autem quod in eas, vel potius in earum lectores, contulit beneficium, minus aliis non fuisse qui iudicant, non insagaci esse iudicio videntur.

Schließlich aber hat er  den [heiligen Schriften] oder vielmehr ihren Lesern Gutes angetan, weniger den anderen, die meinen, es sei so nicht gewesen, und die den Anschein erwecken, einem  sehr klugen Urteil zu unterliegen.

Id cuius honorificam men- |tionem facio beneficium, illud est, quod quum Testamenti novi libri in Tmemata, quae Capita vulgo vocantur, divisi essent, ipse horum Tmematum unumquodque in Tmemata divisit, vel potius subdivisit: quae, appellatione ab aliis magis quam ab ipso probata, Versiculi vocata fuerunt.

Diese Wohltat, die ich als ehrenvoll bezeichne, ist folgende: Obwohl die Bücher des Neuen Testaments in Sinnabschnitte, die gemeinhin Kapitel heißen, gegliedert ist, hat er selbst jeden einzelnen dieser Abschnitte in [weitere] Abschnitte geteilt bzw. unterteilt. Diese wurden mit einer Bezeichnung, die mehr von ihm als von anderen bevorzugt wurde, Verse genannt.

Nam ipsi vel Graeca illa voce Tmematia, vel Latina quae illi respondet, Sectiunculas, nominare magis placebat. Illam enim veterem Commatum in oratione appellationem (Ciceroni Incisorum) ad alium restringi usum videbat.

Denn ihm selbst war es lieber, sie entweder mit dem griechischen Begriff Tmematia oder mit dem entsprechenden lateinischen Begriff Sectiunculae (kleine Abschnitte) zu benennen. Er sah nämlich, dass die alte Bezeichnung Kommata im Redestil (bei Cicero, wo sie eine Unterteilung markieren) einem anderen Gebrauch vorbehalten sei.

Verum, ut his paucis de nomine contentus sim, at de re ipsa plura dicam: initium a duobus sumam, quorum utrum magis mirari debeas dubitabis.

Nun, wenn ich auch nur wenig mit dem Namen einverstanden bin, will ich über die Sache selbst mehr sagen. Den Anfang mache ich mit zwei Bemerkungen, über die man im Zweifel sein wird, über welche man sich mehr wundern will.

Unum est, quod Lutetia Lugdunum petens, hanc, qua de agitur, Capitis cuiusque catacopen confecit, et quidem magnam eius, inter equitandum, partem: alterum,  quod illum paulo ante de hac cogitantem, plerique omnes incogitantem esse aiebant: perinde acsi in re prorsus inutili futura, ideoque non tantum nullam laudem consequutura, sed in derisum etiam ventura, ponere tempus atque operam vellet.

Erstens: er reiste von Paris nach Lyon und machte dabei – und darum handelt es sich – diese Unterteilung eines jeden Kapitels fertig, und zwar zu einem großen Teil auf dem Pferd reitend. Zweitens: Er habe kurz zuvor darüber nachgedacht. Die meisten jedoch behaupten, er habe alle [Unterteilungen] unüberlegt gemacht, gleich als ob er für eine unnütze Sache, die deshalb nicht nur kein Lob verdiene, sondern sogar der Lächerlichkeit preisgegeben sei, Zeit und Mühe habe aufwenden wollen.

Ac ecce, contra eorum damnatricem instituti patris mei opinionem, inventum illud simul in lucem, simul in omnium gratiam venit: simulque in tantam autoritatem, ut quasi exautorarentur aliae Testamenti novi sive Graecae, sive Latinae, sive Gallicae, sive Germanicae, sive in alia vernacula lingua editiones, quae inventum id sequutae non essent.

Und siehe da, gegen die Meinung derer, welche die Einrichtung meines Vaters verdammen, kam jene Erfindung an die Öffentlichkeit. Sie wurde zugleich von allen wohlwollend aufgenommen und gelangte ebenso zu solch großer Autorität, dass die anderen Ausgaben des Neuen Testaments, ob in Griechisch, Lateinisch, Französisch oder Deutsch oder einer anderen Übersetzungssprache, ihre Bedeutung verloren, sofern sie diese Erfindung nicht angewandt hatten.

 

Quelle: Concordantiae Testamenti Novi Graecolatinae : nunc primùm plenae editae ... ; Jn his quid praestitum sit, praefixa ad lectorem epistola docet [Henricus Stephanus] / Jn his quid praestitum sit, praefixa ad lectorem epistola docet [Henricus Stephanus]. - [Genf] : H. Étienne, 1594. - [3] Bl., 535 S. 2°

Vorlageform des Erscheinungsvermerks: Ex Typographeio Henr. Stephani. Anno M.D.XCIIII.

Vorrede, Bl. 1v-2r

 

 

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