Erste Versnummerierungen in gedruckten Bibelausgaben des 16. Jahrhunderts

 (Zu diesem Text vgl. eine Übersicht in chronologischer Ordnung)

 

Dieser Überblick ist gewonnen aus dem Bestand der hebräischen, griechischen, lateinischen, polyglotten, französischen, englischen und schließlich deutschen  Bibeldrucke des 16. Jahrhunderts in der Bibelsammlung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Berücksichtigt sind die Originale und für die Statistik der lateinischen Psalterausgaben ergänzend die Mikrofichekopien aus den Beständen der Bibliotheca Palatina in Rom, für die ersten französischen Bibeln auch die niederländische Datenbank BIBLIA SACRA sowie das Werk "Bibliography of French Bibles : 15th- and 16th-century French-language editions of the Scriptures" / Bettye Thomas Chambers. Genève 1983.

Korrekturen und Ergänzungen aus anderen Beständen wären sehr willkommen. Verzichtet wird auf einen Rückblick der Texteinteilungen seit der Antike. Zweck dieser Darstellung und Auflistung ist auch eine Korrektur unvollständiger oder ungenauer Aussagen in gängigen Lexika oder auf Webseiten.

Eine umfassende Studie dazu ist:

Schmid, Otto: Über verschiedene Eintheilungen der Heiligen Schrift, insbesondere über die

Capitel-Eintheilung Stephan Langtons im XIII. Jahrhundert. û Graz, 1892.

 

 

Der Unterschied zwischen "Verse einzeln abgesetzt" und "Verszählung"

(so die stereotype Bezeichnung im gedruckten Bibelkatalog der Württembergischen Landesbibliothek )

 

Zunächst muss man im Schriftbild unterscheiden zwischen Versen, die nur durch eine neue Zeile und ggf. Einrücken, in Handschriften und frühen Drucken auch durch eine farbige oder Holzschnitt-Initiale von einander "abgesetzt" sind, und der eigentlichen gedruckten Durchnummerierung der Verse innerhalb eines Kapitels, was im allgemeinen Sprachgebrauch "Verszählung" heißt. Nur die Nummerierung findet im folgenden Berücksichtigung. Sie kann ja auch angewandt werden, ohne dass die Verse auf neuer Zeile beginnen. Die Nummerierung kann allerdings verschiedene typographische Formen annehmen:

 

1. Die Verse sind nicht einzeln abgesetzt, aber durch einen Großbuchstaben am Anfang ausgezeichnet. Die Nummerierung befindet sich in entsprechender Höhe auf dem Rand. Beispiele: Ausgaben des Quincuplex Psalterium 1509 u.ö.;  die Übersetzung des Sanctes Pagninus von 1528 .

 

2. Es handelt sich um einen Zweispaltensatz. Die Verse sind nicht abgesetzt. Die Nummerierung befindet sich im "Interkolumnium" (zwischen den beiden Kolumnen in der Mitte). Vorteil für den Setzer: Er hat gegen den Rand der Seite einen sauberen Blocksatz und braucht für die fortlaufende Aufgabe kein so kompliziertes Ausschlussmaterial wie bei den nur gelegentlich auftauchenden Marginalglossen. Beispiel: Deutsche katholische Bibel 1592.

 

3. Die Verse sind abgesetzt. Die Nummerierung befindet sich auf dem Rand. Beispiel: Griechisches NT 1551.

 

4. Die Verse sind abgesetzt. Die Nummerierung befindet sich zwischen den Versen in einer eigenen Zeile (selten). Beispiel: Sprüche Salomonis 1525.

 

5. Die Verse sind nicht abgesetzt. Die Nummerierung û tlw. in kleinerer Type und hochstellt û wird vor dem Anfangsbuchstaben des ersten Wortes gesetzt. Beispiel: Lateinische Bibel 1555: heute die häufigste Darstellung bei Prosatexten.

 

6. "Vorformen":

Oder: Das Blatt wird in 5 gleiche Abschnitte geteilt, Beispiel: die Septuaginta von 1587.

Jede 5. Zeile wird nummeriert. Beispiel: die Prosa-Apokryphen der Separatausgabe Antwerpen 1584

Jeder 5. Vers wird nummeriert. Beispiel: die Biblia Hebraica, Antwerpen 1566

 

Entwicklung und Vorkommen der Versnummerierung

 

Lange noch im frühen 16. Jahrhundert zitierten die Theologen, allermeist die bibelgewandten Reformatoren, nur das Kapitel eines Bibelbuches. Die Kapiteleinteilung stammt von dem Scholastiker Stephan Langton (1150-1228). Daraus resultiert z.B. die Redeweise: "Matthäi am letzten" = Mt. 28 oder: "wie aber mal S. Pauel sagt Heb.9. Er ist gen hymell faren ... vnd Ro 8. Christ Jhesus ..." (Martin Luther: WA 6, 368f)

 

Auf dem Weg des Bibeldrucks zur durchgängigen, aber erst seit dem letzten Jahrhundert einheitlichen Nummerierung sind drei Komplexe zu unterscheiden:

 

1. Die Biblia Hebraica, also das kanonische Alte Testament

2. Innerhalb des Alten Testaments die poetischen Bücher und Stücke in gebundener Rede, also mit eigentlichen "Versen"

Die Masoreten hatten durch die Einfügung der Betonungszeichen, namentlich des Sillûq, das Ende einer Sinneinheit, eines  Satzes bzw. eines Verses markiert. Die Trennung war also durch die Tradition vorgegeben.

3. Die (ev.) apokryphen bzw. (kath.) deuterokanonischen Bücher

4. Das Neue Testament. Hier folgt die Trennung nach dem traditionellen Kolon als Satzschluss.

 

 

 

Der liturgische Bibelgebrauch seit der Alten Kirche bedurfte nur der Einteilung der Lesetexte (Psalmen, Evangelien- und Episteln) nach "Perikopen" (Leseabschnitten). Die synagogale Lesung der Juden stützte sich auf die Einteilung des hebräischen Bibeltextes in Paraschen ("P") bzw. Sedarim ("S"), welche in der Biblia Hebraica deutlich markiert sind.

 

Nachdem sich aber die Bibelexegese immer mehr dem Detail zuwandte, war es unter humanistischem Wissenschaftsverständnis erforderlich, Textstellen exakter ansprechen zu können. Deshalb - so die Legende - habe der französische Drucker und Humanist Robert Estienne = Robertus Stephanus die Versunterteilung des Neuen Testaments erfunden, als er - evangelisch geworden - dem gefährlichen Paris im Jahr 1550 entfloh und auf dem Pferd gen Lyon ritt, wo er sich fortan niederließ. Es soll ihm auf der Reise langweilig gewesen sein, da habe er sich ein eben von ihm gedrucktes griechisches Neues Testament vorgenommen und in dieses Exemplar die Versnummerierung eingetragen.

Dieses war Vorlage für den ersten Druck des NT griechisch und lateinisch von Robertus Stephanus in Genf 1551.

Die philologische Leistung seines Vaters hat der Sohn Henri Estienne im Vorwort zu seiner 1594 zum ersten Mal herausgegebenen griechisch-lateinischen Bibelkonkordanz überschwänglich gewürdigt, indem er nur auf die Tatsache abhob, Robert Estienne habe die Kapitel des Neuen Testaments weiter in Sinnabschnitte unterteilt, ohne sich dem Begriff "Vers" für das Ergebnis zu öffnen.

 

Wie aus der Tabelle hervorgeht, war aber Stephanus beileibe nicht der erste, dem die Idee einer feineren Untergliederung der Kapitel gekommen war.

 

Die sich später durchsetzende Nummerierung von Versen, anfänglich in der Poesie, wie in den Psalmen, den Sprüchen der Weisheitsliteratur, im Hohenlied oder in anderen Büchern wie Hiob, Jeremia, den Kleinen Propheten etc., übertrug sich nach ersten Versuchen auch auf die Prosatexte der Bibel, indem man die einzelnen Sätze nummerierte. Rubrizierte  Handschriften und Inkunabeln waren Vorbild. Satzanfänge wurden oft mit einem roten Strich ausgezeichnet. Später hat man alle Sätze, ob Poesie oder Prosa, als (Bibel)-Verse bezeichnet. Dies gilt bis zum heutigen Tag.

Für die Inkunabelzeit lässt sich den gedruckten Bibelkatalogen der Württembergischen Landesbibliothek und auch dem Inkunabelkatalog INKA entnehmen, dass in Bibelausgaben keine nummerierten Verse vorkommen.

 

 

 

 

      Erste gedruckte deutsche Bibel, Straßburg 1466.

      Rubrizierte Versanfänge

 

 

 

Lateinische Bibel, Nürnberg 1475.

Rubrizierte Versanfänge

 

1509 erschien von dem Pariser Humanisten Jacques LeFèvre d'Étaples = Jacobus Faber Stapulensis (1450-1536) das Quincuplex Psalterium, eine lateinische Psalterausgabe mit dreifachem Text in Kolumnen nebeneinander, mit Textversionen, die sich aus verschiedenen Vorlagen speisten, dem Psalterium Gallicanum (Übersetzung aus der Septuaginta und Text des liturgischen Psalters), der Vulgata mit der Übersetzung des Hieronymus aus dem Hebräischen und dem Psalterium Romanum (der fälschlicherweise dem Hieronymus zugeschriebenen früheren Übersetzung aus der Septuaginta als dem in der Stadt Rom gebräuchlichen liturgischen Psalter). In einem zweiten Teil bringt Faber Stapulensis eine von ihm vorgeschlagene vermittelnde Version ("Conciliata") neben dem Text der altlateinischen Bibel, der "Vetus Latina". Damit man die Parallelen besser vergleichen konnte, hatte der Humanist zum ersten Mal die einzelnen Verse der Psalmen durchnummeriert,  was in den Folgejahren einige Nachahmer fand, die tlw. literarisch verwandte Bibelbücher wie die Sprüche Salomo oder die des Jesus Sirach, aber auch Poetisches aus den Propheten ebenso behandelten.

Die "moderne" Methode, Verse innerhalb der Kapitel zu nummerieren und damit ansprechbar und zitierbar zu machen, wurde von den Buchdruckern unterschiedlich wahrgenommen. Mit der Psalmenausgabe des Faber Stapulensis in Paris 1509 war ein Beispiel für die Psalmen und anderen poetischen Teile des Alten Testaments gegeben. Eine gewisse Beharrung auf nicht nummerierten Versen mag in den altgläubig gebliebenen Gebieten deshalb vermutet werden, weil der Psalter als wichtigstes Element des Stundengebets keiner exegetischen oder philologischen Behandlung bedurfte. Dennoch vermisst man im Gegenzug die moderne Methode zunächst die protestantischen Zentren des Bibeldrucks wie Basel oder Wittenberg. Einfluss scheint Faber Stapulensis eher regional von Paris aus ausgeübt zu haben. Allerdings mischen sich die Druckorte bunt, und die geringe Zahl der Fälle lässt einen endgültigen Schluss kaum zu.

Ähnlich ist die Verteilung von nachgewiesener Versnummerierung oder deren Verzicht in den Ausgaben mit poetischen, also rhythmischen Stücken mit Vorsicht zu interpretieren.

 

     

         Ausgaben mit poetischen Büchern des AT in lateinischer Sprache von 1457-1560

Zeitraum

Alle Ausgaben

Davon mit

Versnummerierung

Anteil mit Verszählung in %

 

Zeitraum

Alle Ausgaben

Davon mit

Versnummerierung

Anteil mit Verszählung in %

1457-1500

29

0

0

 

1531-1535

11

8

72

1501-1505

4

0

0

 

1536-1540

15

3

20

1506-1510

7

1

14

 

1541-1545

9

0

0

1511-1515

9

2

22

 

1546-1550

10

2

20

1516-1520

4

0

0

 

1551-1555

13

1

8

1521-1525

7

3

42

 

1556-1560

10

2

20

1526-1530

7

3

42

 

 

 

 

 


      
Eine gewisse Häufigkeit ist zwischen 1520 und 1535 auffällig.

 

 

In lateinischen Vollbibeln findet man denn auch konsequenterweise Nummerierung der Psalmenverse, aber nur dieser; so z. B. 1528/27 in Paris oder 1531 in Lyon.

 

 

Eine Nummerierung der ganzen Bibel, also unter Einschluss der Prosatexte, taucht zunächst nur in einer Lyoner lateinischen Bibel des Sanctes Pagninus von 1528 auf. Dieser Ansatz blieb jedoch zunächst folgenlos. Auffällig ist, dass im Neuen Testament, insbesondere von den Briefen an, keine Einteilung vorgenommen wurde, die der heute gebräuchlichen Versnummerierung entspricht. Die Abschnitte und damit die Sinneinheiten sind größer. Im Alten Testament orientiert sich die Nummerierung an der hebräischen Vorgabe des Masoretischen Textes (s. Hebräische Bibeln).


Einschub:
Die Amsterdamer Datenbank BIBLIA SACRA ("Bibles printed in the Netherlands and Belgium") vermerkt bei einem französischen Neuen Testaments, Louvain 1549: "numbered verses: yes". Nach Mitteilung des Bibliothekars des Grand Séminaire de Liège besitzt das Buch keine Nummerierung der einzelnen Verse, sondern nur eine Art Kapiteleinteilung. Die Ausgabe kann demnach außer Acht bleiben.

Robert Estienne, der 1551 den entscheidenden Anstoß zur Nummerierung der Verse gegeben hatte, übertrug seine Methode in den Folgejahren auch in seine von ihm gedruckten Vollbibeln, so in das lateinisch-französische Neue Testament von 1552 und in die französische große Bibel von 1553, die damit zum Erstling der Vollbibeln mit direkter und nachhaltiger Wirkung wurde. 1555 folgte eine lateinische Vollbibel.
In Lyon wurde die Genfer Methode nachgeahmt, wie denn in genere festzustellen ist, dass sich die Nummerierungsmethode mehrheitlich im französischsprachigen Humanismus und hier namentlich im reformierten Protestantismus zuerst ausgebildet und verbreitet hat.

Als wegen der Religionswirren in England die englische Bibel in Genf gedruckt werden musste, gab man schon ihrer Erstausgabe von 1560 in der Tradition des Robert Stephanus auch gleich die Versnummerierung mit.

Dann folgen Antwerpen und Zürich, Zentren humanistischer Bibelwissenschaft und philologisch geprägter Richtung, mehr als dies in Wittenberg der Fall war.

Christoph Walther (gest. 1574), Korrektor in der Druckerei von Hans Lufft bewahrte die Lutherbibel in den Wittenberger Nachdrucken wie eine Reliquie:
"Gleich wie wir mit Warheit vnd gutem Gewissen rhümen können vnd sagen / das wir die Biblien rein / Wort auff wort vnd Buchstab auff Buchstab mit allem vleis / wie wir vom Herrn Doctor Mart. Luthero selber gelernet vnd empfangen haben / stets gedruckt haben ... Also haben wir auch mit sonderlichem rat vnd bedacht / keine Newerung mit Registern vnd abtheilung der Vers mit ziffern/machen wollen / sondern habens schlechts bleiben lassen / wie bey leben Lutheri ..." (Christoph Walther: Bericht von dem falschen nachdrucken der Deudschen Biblien. Wittemberg 1569. - Bl. C1)


In Wittenberg erschien denn auch keine Polyglotte wie in Antwerpen, Genf oder Zürich. Schnell wurden die Versnummerierungen in die Polyglotten eingearbeitet.

 

Bei den Di- und Polyglotten fällt auf, dass in ihnen meist nur die lateinischen Versanfänge nummeriert werden, nicht jedoch die oft nicht auf gleicher Höhe sitzenden griechischen, hebräischen oder syrischen Zeilen. Dies kann seinen Grund darin haben, dass mit Ausschlussmaterial bei der gebräuchlichen Antiquaschrift besser umzugehen war oder aber auch auf die vornehmlichen Interessen der Leser abgehoben wurde, die doch lieber das gewohnte Latein lesen wollten.
Eine Ausnahme bildet hier das Zürcher griechisch-lateinische Neue Testament des Theodore Bèze von 1559. Eindeutig sitzen die Ziffern vor den griechischen Versanfängen.

 

Erst 1569 trauten sich die Heidelberger Drucker Martin Agricola und Johannes Mayer die Versnummerierung in eine
deutschsprachige Bibel
zu übernehmen. Hier scheint es zwischen Genf und Kurpfalz (seit 1563 reformiert) eine Achse reformierter und damit noch intensiver gepflegter Bibelphilologie zu gegeben zu haben.

Die erste Wittenberger Bibel ist von 1586 als Oktavausgabe nachgewiesen, die erste Folioausgabe stammt von 1590.

1592 folgt dann die katholische Bibel von Johann Dietenberger. Der Weg ins 17. Jahrhundert ist offen-

 

Wie schon bei den griechischen und lateinischen Ausgaben, fügte man die Ziffern zunächst nur in kleinformatigen Büchern ein, Folioausgaben bleiben länger davon unberührt. Die Kleinformate dienten der wissenschaftlichen Beschäftigung, der Exegese, des Textvergleichs, dem wissenschaftlichem Zitieren.

 

Zeitliche Verzögerungen gab es bei den deuterokanonischen Schriften (Apokryphen) des griechischen Septuagintatextes und bei den Pseudepigraphen.

 

© Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Eberhard Zwink
19. Januar 2007


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