OP 20 G übernimmt die
Entzifferung des U-Boot-Funkverkehrs

Die Amerikaner hatten ursprünglich den Plan, bereits ab April 1941 die Sicherung der Geleitzüge auf der Kanada-Island Etappe zu übernehmen, und so dem bedrängten britischen Reich beizustehen. Dazu erwünschten sie sich allerdings die Teilhabe an allen verfügbaren Informationen über deutsche und italienische Marineoperationen im Atlantik. Sogar schon früher hatten sich hohe Zivilbeamte der brit. und amerik. Regierung schriftlich darauf geeinigt, das Wissen über Dechiffriertechniken und gewonnene Informationen auszutauschen. Aber die strenge Anordnung des "Official Secret Acts", die jeder in Bletchley Park Beschäftigte unterzeichnet hatte und die jeden einzelnen zu strengster Verschwiegenheit verpflichtete, stand einem freien Gedankenaustausch im Wege. Das gegenseitige Misstrauen war auch nicht unbegründet. Vor allem fürchten die Engländer, daß ihnen die Amerikaner die Erfolge bei der Dechiffrierung abnehmen würden, sobald das erforderliche know-how übermittelt war, weil sie für alle Routinearbeiten die Ressourcen der riesigen Elektronik- und Rechenmaschinenindustrie ins Spiel bringen konnten.

In der Tat waren die Amerikaner vielfach der Ansicht, dass es besser wäre, wenn sie die Nachrichtendienste kontrollierten, da Bletchley Park durch Luftangriffe ungleich stärker gefährdet war als irgendein Ort in den USA. Im Januar 1941 besuchte eine Abordnung amerikanischer Kryptologen den britischen Entzifferungsdienst. Die Amerikaner hielten sich ungefähr 5 Wochen in England auf. Sicher ist, dass die Engländer aus dem Besuch gewaltige Vorteile zogen, während die Amerikaner enttäuscht nach Hause fuhren. Aber klar ist auch, dass die Englander zu diesem Termin noch keine Erfolge bei der Decodierung des deutschen Marine-Funkschlüssels gehabt hatten. Das eigenbrödlerische Verhältnis änderte sich aber weder im Mai 1941, nach dem erfolgreichen Vorstoß gegen die Lofoten, und auch nicht im Februar 1942, als die Engländer den gerade errungenen Erfolg beim Einbruch in den Triton-Schlüssel mit Einführung der 4-walzigen Enigma (Schlüssel M) wieder verloren. Stattdessen bekamen die USA mit der Operation Paukenschlag den U-Boot-Krieg vor die eigene Haustür.

Im Sommer 1942 willigten die Briten ein, dass zwei Offiziere der USN der "Hütte 8" (Marinenachrichten) zugeteilt wurden. Zwar zeigten sich die Kryptologen in B.P. diesmal aufgeschlossen und kooperationsbereit, aber ihnen fehlten eine Vier-Walzen-Bomba, und die Kurzsignalbücher wie auch Informationen über die Tagesschlüssel. "Im Laufe der Monate wurde aus den eingehenden Berichten unserer Abgesandten in England immer deutlicher, daß die Engländer nicht einmal in der Lage waren, uns eine Maschine [Bombe] zu liefern. ... So kamen wir zu dem Ergebnis, dass der Start eines eigenen Entwicklungsprogramms gerechtfertigt erschien." Anfang September 1942 erklärte Joseph Wenger, Chef der Entzifferungsabteilung OP20G, dass die USN nunmehr auf eigene Faust am Bau einer vierwalzigen Hochgeschwindigkeits-Bombe arbeiten würde. Mit dem Bau wurde die NCR beauftragt, in deren Diensten Joseph Desch arbeitete.

Die Briten nahmen, möglicherweise als Reaktion darauf, einige tief greifende Veränderungen im Nachrichtendienst der Navy und in Bletchley Park vor: Winston Churchill wies den First Sea Lord Dudley Pound an, den Leiter der Nachrichtenabteilung der Marine, John H. Godfrey, abzusetzen. Er wurde von Commodore (später Rear Admiral) Edward G Rushbrooke abgelöst. In Bletchley Park löste der stellvertretende Direktor Edward Travis den Direktor Alastair Denniston ab. "Die Ära einer seltsam anmutenden Exzentrizität war vorüber", schreibt David Kahn. Travis war "ein Manager, der Bletchley Park in die moderne Ära der kryptanalytischen Massenproduktion führen konnte." 

Alan Turing, der brilliante, exzentrische Mathematiker und Erfinder der ersten britischen "Bomba", wurde als Leiter in Hut 8 ("Marinefunkverkehr") in Bletchley Park abgelöst. Turing arbeitete noch kurze Zeit an "Fish" und den Entzifferungsmaschinen für den Fernschreiber. Im November 1942 fuhr er in die Vereinigten Staaten und bleib dort viereinhalb Monate tätig. Gordon Welshman, Miterfinder der ersten britischen "Bomba", schreibt in seinen Memoiren, daß der neue Chef in Bletchley Park Edward Travis auch ihn von seiner Tätigkeit in Hut 6 ("    ") entbunden habe. Er wurde zunächst stellvertretender Direktor für die Automatisierung an der Government Code & Cypher School. Im Februar 1943 reiste er - wie Alan Turing - zu einem längeren Aufenthalt nach Amerika.

In Washington schlossen am 2. Oktober 1942 Cpt. Carl Holden (RN) und Cpt. Joseph Wenger (USN) ein schriftliches Abkommen, in dem ein vollständiger und offener Austausch von Informationen und Technologie im Zusammenhang mit der Vier-Walzen-Enigma der deutschen U-Bootwaffe und den italienischen und japanischen Marinecodes vereinbart wurde. Doch weigerten sich die Briten, einen ähnlichen Austausch über die Entzifferung des Funkverkehrs des deutschen Heeres und der Luftwaffe zu vereinbaren. Eilig gestand der Stabschef der US Amy, George C. Marshall, den Briten daraufhin zu, daß kein zwingender Grund bestehe, daß die Briten ihre Aufklärungsgeheimnisse dem Hauptquartier der US Army in Washington zukommen lassen müsse. Statt dessen sollte eine eigens eingesetzte "Special Liaison Unit" (Verbindungseinheit), die dem Hauptquartier der US Army in Europa angegliedert wurde, lediglich als Übermittler von Informationen aus Ultra dienen, welche die Briten über das deutsche Heer und die Luftwaffe gewonnen hatten. Heimlich aber schloss die US Army am 30. September einen Vertrag mit der BELL TELEPHONE LABORATORIES über die Produktion von 144 Bombas für einen amerikanischen Angriff auf die deutschen Drei-Walzen-Enigmas. Diese Bombas wurden unter dem Namen "Rapid Analytical Machines" (RAM) bekannt und benutzten an Stelle von Walzen "Umschaltrelais" ähnlich den Nachbauten der japanischen "Purple"-Maschinen. Nach etwas mehr als einem Monat präsentierte BELL bereits ein funktionsfähiges Versuchsmodell. Die Vereinbarungen zwischen Briten und Amerikanern im Oktober 1942 hatten zumindest eine von Ärger unbelastete Zusammenarbeit der beiden Nationen auf dem Kriegsschauplatz zur Folge. Außerdem arbeiteten OP20G und B.P. endlich gemeinschaftlich daran, in den Funkverkehr des Schlüsselbereichs Triton einzudringen.

Andrew Hodges schreibt, Alan Turing sei im Herbst 1942 in die Vereinigten Staaten gereist, um den Ingenieuren von BELL bei der Entwicklung einer absolut sicheren Telefonverbindung zwischen London und Washington behilflich zu sein, einer Technologie, die später unter der Bezeichnung "scrambler" (Zerhacker) allgemein bekannt wurde. Das mag richtig sein, aber zu dieser Reise bleiben einige ungeklärte Fragen offen. Turing verbrachte den größten Teil der ersten beiden Monate seines Besuches in Washington gemeinsam mit Howard Engström und anderen Kryptologen der US Navy, die zu der Zeit an der Verbesserung ihrer Pläne für die Bombas arbeiteten, die bei NCR in Dayton gebaut wurden und den Marineschlüssel "Triton" knacken sollten. Erst im Januar 1943, schreibt Hodges, meldete er sich bei BELL zur Arbeit. Anfangs wurde ihm der Zugang zu den sterng geheimen Projekten verwehrt, aber nach einem Protest auf höchster Ebene wurde er zugelassen. Danach hatte er Zugang zu allen Projekten von BELL, auch zu dem wichtigsten, der RAM, von der die US Army 144 Stück in Auftrag gegeben hatte. (...) Gordon Welshman, der Ende Februar in den Vereinigten Staaten eintraf, arbeitete in Washington mit den Militärkryptologen Frank B Rowlet (US Army) und Howard Engstrom (US Navy) zusammen. Wie Turing brachte auch er vermutlich eine Reihe nützlicher Anregungen in beide Projekte ein.

Das Eilprogramm der US Navy für den Bau von 100 "High Speed Bombes", um in den Funkschlüssel der 4-Walzen-Enigma einzubrechen, machte bei der NATIONAL CASH REGISTER COMPANY (NCR) in Dayton, Ohio, gewaltige Fortschritte. Ein wenig peinlich für das amerikanische Projekt war der Umstand, daß die Kryptologen in B.P. im Dezember 1942 mit ihren 3-Waklzen-Bombas in den Schlüsselbereich "Triton" eingebrochen waren, um zwar mit Hilfe des Schlüsselmaterials, das von einer Entermannschaft aus dem im Mittelmeer versenkten U 559 geborgenen werden konnte. Die britischen 3-Walzen-Bombas arbeiteten jedoch in einem nervenaufreibenden Schneckentempo ... Ende März hatte NCR die beiden ersten Prototypen der amerikanischen 4-Walzen-Bombas namens "Adam" und "Eve" fertiggestellt. Sie wurden im Mai 1943 im US NAVAL COMPUTING MACHINE LABORATORY (NCML) in Betrieb genommen, bereiteten aber noch einiges Kopfzerbrechen, da sie nicht länger als einige Stunden liefen, ohne daß Öl austrat und es zu nicht behebbaren Kurzschlüssen kam. Das Problem wurde verursacht, da sich grundlegende Bestandteile der Bomba, nämlich die Hochgeschwindigkeits-Kommutatoren (große Walzen), überhitzten und verformten. 

"Jede der 64 doppelten Kommutatoren für die Enigma-Walzen enthielt 104 Kontakte, die ganz genau ausgerichtet sein mußten, wenn sie die Sensoren aus Kupfer und Silber berührten. Eine so genaue Synchronisation ließ sich nur schwer erreichen, vor allem bei der schnellen Walze, die sich mit annähernd 2000 Umdrehungen pro Minute drehte." (Burke, 394)

Engstrom und Desch stritten sich energisch über geeignete Möglichkeiten, das Problem zu lösen. ... Damit das gesamte Projekt nicht mehr länger aufgehalten wurde, ordnete Engström an, mit dem Bau der "Colossus" auch gegen den Rat der Ingenieure fortzufahren.

Das erste Serien-Modell der "Bombe Modell 530" wurde am 4. Juli 1943 bei der NCR in Dayton fertig gestellt. Diese Bombe war riesig (weshalb sie in der Literatur vielleicht fälschlich als "Colossus" bezeichnet wurde): 2,40m lang, 2,10m hoch und 60cm tief. Ihr Gewicht betrug 2250 kg und enthielt u.a. 1500 Vakuumröhren, die zusammen eine so enorme Hitze entwickelten, daß leistungsstarke Klimaanlagen notwendig waren, um einen Aufenthalt in den Arbeitsräumen möglich zu machen. Jede Bomba enthielt 16 vierwalzige Enigma-Klone und die von Welchman entwickelte diagonale Schalttafel. Alle Schaltkreise mussten viele Tausend  Kombinationen an Walzenpositionen mit Hilfe von Klartext-Bruchstücken ("cribs") auf Kohärenz hin überprüfen. Wurde ein "crib" eingegeben, dann konnte eine Bomba 20280 "Versuche" in der Sekunde durchführen. Sie benötigte lediglich 50 Sekunden für den vollständigen "Durchlauf" einer 3-Walzen-Bomba und 20 Minuten für einen "langen" 4-Walzen-Durchlauf (395)

Nach Schilderung des Historikers Colin B. Burke wurden bis Ende Juli 1943 fünfzehn Bombas des "Models 530" fertiggestellt: "Aber keine einzige funktionierte". Nach Burkes Darstellung waren die Schlüsselwalzen aus Bakelit das größte technische Problem. Wie bei den Prototypen verzogen sich die Walzen, wenn sie mit der erforderlichen hohen Geschwindigkeit rotierten und trafen deshalb die elektrischen Kontakte nicht mehr genau. ... (492). Burke schreibt, daß Joe Desch, Chefingenieur bei NCR, das Projekt gerettet habe, indem die Verarbeitung und Befestigung der Walzen noch einmal verbessert wurde. "Deschs Bombas erwiesen sich als sehr zuverlässig. Sie konnten täglich rund um die Uhr in Betrieb sein." (492)

Bereits im Mai und Juni meldeten sich Navy-Bedienstete für die Bedienung der Bomas in Dayton. Dazu zählte ein starkes Kontingent freiwilliger Marinehelferinnen, sogenannter Waves, die in drei Schichten rund um die Uhr die Maschinen mit Texten füttern und bedienen sollten. (395). Da die Gebäude der COMMUNICATIONS SUPPLEMENTARY ACTIVITIES WASHINGTON (CSAW, gesprochen: "See-Saw"), der späteren NAVAL SECURITY AGENCY (NSA) an der Nebraska Avenue noch nicht fertig gestellt waren und die Mechanik der Bombas immer wieder geändert und verbessert wurde, nutzten die Kryptologen sie bis August 1943 operativ bei NCR in Dayton. Washington schickte Dayton dazu über eine sichere Fernschreiber-Verbindung die abgefangenenen Enigma-Funksprüche; Dayton antwortete mit den entzifferten Funksprüchen, die unverzüglich an Kenneth Knowles im Stab der Tenth Fleet weitergeleitet wurde. (395)

Die NCR produzierte im Sommer 1943 wöchentlich etwa 4 Bombas. Im August 1943 wies das OP20G die Überführung der ersten Bombas von Dayton nach Washington an. Auf schwer bewachten Eisenbahn-Waggons wurden am 1. September vier Bombas überführt. Bis Ende September waren 17 Bombas des "Modells 530" an der Nebraska Avenue in Betrieb. Im Januar 1944 liefen bereits 84 Bombas. Insgesamt baute NCR während des Krieges rund 120 solcher Maschinen.

Die Briten hatten unterdessen 2 verschiedene 4-Walzen-Bombas fertiggestellt. Sie waren langsamer als die amerikanische Bomba und benötigten für einen vollen Durchlauf 30 Minuten. Die Briten bauten 69 4-Walzen-Bombas. (395). Doch von Oktober 1943 an waren die Kryptologen der US Navy allein zuständig für das Entziffern der U-Boot-Funksprüche. Ihre Ergebnisse wurden per Fernschreiber am B.P. und den Submarine Tracking Room (Commander Rodger Winn) in London übermittelt. (Bild vor Seite 257). B.P. widmete sich stattdessen der Aufgabe, in weitere Schlüsselkreise der deutschen Funktelegraphie einzubrechen (z.B. HERMES, POSEIDON, POTSDAM, siehe key-codes).

Funkaufklärung im 2. Weltkrieg (Frames)
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