Desertion, Verweigerung und Militärjustiz
in der Kriegsmarine

 
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4.5.1945
Deutschland / allgemeine Lage
Unterzeichnung der Kapitulation dt. Truppen in Nordwestdeutschland, Dänemark und Holland durch Generaladmiral von Friedeburg und Generalfeldmarschall Montgomery. Die Kapitulations-Bedingungen verbieten das Auslaufen von dt. Seestreitkräften aus den Häfen ebenso wie eine Versenkung oder Beschädigung von Schiffen. Die sog. »Teilkapitulation« tritt am 5.5. um 7 Uhr in Kraft.

5.5.1945
Dänemark / Ostsee

Am frühen Morgen läuft aus dem Hafen von Kopenhagen, das seit Wochen mit Flüchtlingen, Verwundeten und Soldaten überfüllt ist, eine ganze Flotte kleinerer Kriegsschiffe mit Ostkurs, Ziel Hela aus. Auch die in Sonderburg liegenden Minensuchboote
M 601 und M 612 der 12. M-Flottille sollen sich anschließen, um Angehörige der Kurland-Armee zu evakuieren. Während von M 601 in der Nacht zuvor fünf Besatzungsmitglieder desertiert sind und das Boot daher nicht einsatzbereit ist, läuft M 612 (Oblt.z.S. Kropp) entgegen den Bedingungen der Teilkapitulation (siehe 4.5.45) von Sonderburg aus. Doch Teile der Besatzung wollen Ihr Leben nicht mehr aufs Spiel setzen, widersetzen sich den deutschen Befehlen und nehmen die Offiziere an Bord fest. Die Tatsache, dass im Funkverkehr mit M 612 kein Offizier zu sprechen ist, erweckt Verdacht beim Kommandanten eines entgegenkommenden Kriegsschiffes. Ein eigens eingesetztes Schnellboot- Kommando verfolgt und entert M 612 und beendet den Aufstand. An Bord werden die Meuterer vor ein Standgericht unter Befehlshoheit des F.d.Minsch. gestellt. Marine-Oberstabsrichter Dr. Berns (Sonderburg) bestätigt 11 Todesurteile, die unmittelbar an Bord des Minensuchbootes vollstreckt werden, und 4 Mal die Zuchthausstrafe.

Literatur:
Zu M 612 gab es in der Zeitschrift MARINEFORUM 4/1990 des Deutschen Marine Instituts einen ausführlichen Artikel von FKapt. a.D. Dr. Dieter Hartwig. Auf diesen Artikel folgte eine ausführliche Korrespondenz mit dem damaligen Kommandanten von M 612. Dietrich Kropp. Dieser Korrespondenz sind sehr viele Einzelheiten zu entnehmen. Resümee der Korrespondenz in MARINEFORUM 7-8/1990. Außerdem gibts einen Abschnitt in: Jörg Friedrich: Freispruch für die Nazi-Justiz. rororo Reinbek 1983, S.143

7.– 22.5.1945
Dänemark / Ostsee
Trotz Inkrafttreten der Teilkapitulation (siehe 4.5.45) ergeht an zwei vor Kopenhagen liegende Räumboote R 412 und R 414 der Befehl, nach Hela auszulaufen, um noch Flüchtlinge abzuholen. Auf R 414 (Lt.z.S. Constabel) widersetzen sich 2 Besatzungsmitglieder den deutschen Befehlen und wollen die Offiziere an Bord überwältigen; doch der Versuch scheitert. Das Boot verlegt in den Sund bei Drogden, ein Standgericht (KKpt. Hansen-Nootbar) wird einberufen, stellt aber fest, dass ein Urteil unzulässig wäre, wenn ein deutsches Kriegsgericht erreichbar ist. R 414 kehrt zuerst nach Kopenhagen zurück, wird dort zum Fährdienst im Hafengebiet eingesetzt und verlegt nach Gesamtkapitulation der Wehrmacht nach Flensburg, wo sich die „Meuterer“ am 20.5. in den Schutz der englischen Besatzungsmacht begeben, als die deutsche Justiz den Fall wieder aufnehmen will. Der Kommandant von R 414 wird von den Briten verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die "unzuverlässige" Besatzung unter dem Kommando der Deutschen Minenräumleitung (GM/SA) von Bord gejagt und ersetzt.

Literatur:
Zu R 414 gibt es das ausführliche Buch des ehem. Kommandanten Hans Constabel: "Hol nieder Flagge! Ereignisse um ein Standgericht im Mai 1945". Convent-Verlag. Hamburg (2. Aufl.) 2001 mit ausführlichem Nachtrag über Reaktionen auf die Erstveröffentlichung.

9.– 10.5.1945
Deutschland
Auch nach Kapitulation des Deutschen Reiches werden 3 Marinesoldaten an Bord des S-Begleitschiffes Buea vor ein dtsch. Kriegsgericht gestellt. Sie waren Anfang Mai einem Marineinfanterie- Bataillon zugeteilt worden, das in Svendborg aus zusammengewürfelten Mannschaften verschiedener Einheiten hastig aufgestellt wurde, um noch in die Kämpfe um Berlin geworfen zu werden. In der Nacht zum 6.5. fassen die Angeklagten den Entschluß, die Truppe zu verlassen und sich nach Deutschland zu ihren Angehörigen durchzuschlagen. Unterwegs werden sie von einem Trupp bewaffneter Dänen aufgegriffen und zurückgebracht. Geleitet von dem Ansinnen, die Disziplin in der Truppe auch über das Kriegsende hinaus aufrechtzuerhalten, verurteilt das Kriegsgericht (Stabsrichter Holzwig und seine Geschworenen) die 3 Angeklagten zum Tode. Das Urteil wird vom zuständigen F.d.S., Kommodore Petersen, bestätigt und am 10.5. an Bord der Buea vollstreckt.

Literatur:
Zu dem geschilderten Fall gibt es ein Kapitel in dem Buch von Jörg Kammler: "Ich habe die Metzelei satt und laufe über. Kasseler Soldaten zwischen Verweigerung und Widerstand 1939-1945". Hesse: Fuldabrück 1985, S.69-92. Auch ein Kapitel in Jörg Friedrich: Freispruch für die Nazi-Justiz. Rowohlt: Reinbek 1983, S.140-165. Zur Kritik an der Kampfmoral der S-Boot-Waffe und der Rolle von Kommodore Petersen das Kapitel in Hans Frank: Die deutschen Schnellboote im Einsatz. Mittler: Hamburg 2006, S. 174-179.
Zum Thema Fahnenflucht allgemein: Franz Seidler: "Die Fahnenflucht in der deutschen Wehrmacht während des 2. Weltkrieges". In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2/1977, S.23-41. Heinz Hürten: "Im Umbruch der Normen. Dokumente über die deutsche Militärjustiz nach der Kapitulation der Wehrmacht". In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2/1980, S.137-156 (Schwerpunkt der Dokumentensammlung sind Beispiele aus Norwegen). Wolfram Wette (Hg.): "Deserteure der Wehrmacht. Feiglinge - Opfer - Hoffnungsträger? Dokumentation eines Meinungswandels". Klartext: Essen 1995

Internationaler Vergleich:
Im 2. Weltkrieg hat die deutsche Wehrmacht über 35.000 Urteile wegen Fahnenflucht gefällt, davon über 22.000 Todesurteile, von denen ca. 15.000 vollstreckt worden sind. Im Vergleich dazu haben die US-Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg 146 Todesurteile vollstreckt, davon nur eines wegen Fahnenflucht. In Frankreich wurden 103 Todesurteile ausgesprochen, ein Urteil wegen Fahnenflucht ist nicht bekannt. In Großbritannien wurden 40 Todesurteile vollstreckt, drei davon wegen Meuterei, keines wegen Fahnenflucht.