Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus: Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 3(1995) 1
Die Musik in Geschichte und Gegenwart
- 95-1-103
-
Die Musik in Geschichte und Gegenwart : allgemeine
Enzyklopädie der Musik / begr. von Friedrich Blume. - 2.,
neubearb. Ausg. / hrsg. von Ludwig Finscher. - Kassel
[u.a.] : Bärenreiter ; Stuttgart [u.a.] : Metzler. - 28
cm. - ISBN 3-7618-1100-4 (Bärenreiter) - ISBN
3-476-41022-6 (Metzler)
- [2379]
- Sachteil, Bd. 1 - 8. - ISBN 3-7618-1101-2 (Bärenreiter)
- ISBN 3-476-41000-5 (Metzler) : DM 298.00 je Bd.
(Subskr.-Pr. bis 31.12.1995)
- 1. A - Bog. - 1994. - XLIX S., 1644 Sp. - ISBN
3-7618-1102-0 (Bärenreiter) - ISBN 3-476-41001-3
(Metzler)
Fast ein halbes Jahrhundert liegt zwischen dem Erscheinungsjahr von
Bd. 1 der alten MGG (1949) und dem Bd. 1 der zweiten, neubearbeiteten
Ausgabe. In seinem sehr instruktiven Vorwort beschreibt der
Herausgeber Ludwig Finscher die in wesentlichen Teilen modifizierte
Konzeption der Neuausgabe. So ist nun, formal, eine strikte Trennung
von Sachteil und Personenteil durchgeführt, inhaltlich ist die
"Tendenz zur Darstellung übergreifender Zusammenhänge" (Finscher)
angestrebt, dies wohl in der Absicht einer bewußten Verschärfung der
Differenz zum Konzept des New Grove,[1] der einen eher lexikalischen
Anspruch verwirklicht (freilich nur tendenziell[2]). So sucht man,
beispielsweise, Afroamerikanische Musik als eigenständiges Schtichwort
im Grove vergeblich. Zu finden ist dieses nur als
Verweisungsstichwort. Dagegen sind solch unzweifelhaft lexikalischen
Einträge wie A tempo, Ad libitum oder Körperschaftsnamen (z.B. African
Music Society) nach wie vor ausschließlich dem Grove vorbehalten. Eine
nicht genug schätzbare Verbesserung bedeutet die Gliederung der Texte
durch Abschnittsbildung statt des ungegliederten Fließtextes der alten
Ausgabe sowie die Strukturierung durch Zwischentitel. Das jeweilige
Stichwort ist als Kopf deutlich abgesetzt, und es finden sich -
entgegen der alten Ausgabe und dem Grove angeglichen -
Verweisungsstichwörter (Adjuvantenchor, in der alten MGG noch ein
eigenes, verweist auf Kantorei, Agogik auf Vortrag). Die Abbildungen,
insgesamt gegenüber früher reduziert, sind von drucktechnisch guter
Qualität und sogar gelegentlich farbig, ein Plus vor allem für die
Wiedergabe der kolorierten Handschriften (Beispiel Rondeaux-Autograph,
Sp. 1083). Grob sachlich gegliedert ist nun auch die Bibliographie zum
jeweiligen Stichwort. Leider konnten sich die Herausgeber jedoch nicht
zu einer übersichtlicheren Präsentation in Anlehnung an den Grove
entscheiden, bei dem Literaturangabe auf einer neuen Zeile beginnt.
Die Suche innerhalb der chronologischen Ordnung ist nach wie vor ein
mühsames Unterfangen. Ein aktualisiertes Verzeichnis der
RISM-Bibliothekssigel, ein Autorenverzeichnis sowie
Abbildungsnachweise ergänzen den Band.
Ein inhaltlicher Vergleich der alten und neuen Ausgabe zeigt insgesamt
die Tendenz zu einem abgespeckten Stichworteintrag. Akustische
Grundbegriffe z.B. ist nunmehr Teil des umfassenderen Artikels
Akustik. Aber auch die in über vier Jahrzehnten fortgeschrittene
Wissenschaftserkenntnis schlägt sich in mancher Stichwortfassung
nieder. Statt Affektenlehre findet der Leser Affekt: ein Wandel von
dem engen kompositionstechnischen Begriff zum Verständnis als
wirkungsästhetischer Wert. Eine gewisse Angleichung an den Grove ist
in den Länderartikeln zu vermerken; nun heißt es konsequent nicht mehr
Ägyptische Musik, sondern Ägypten. Entsprechend entfallen die alten
Begriffe Afrikanische Musik und Äthiopische Musik (statt letzterem nun
Äthiopien und Äthiopische Kirchenmusik). Das Prinzip spezifischer
Länderartikel herrscht vor. Der Eintrag Amerika hat dabei eine
bemerkenswerte Umwertung erlebt. Fand der Leser in der alten Ausgabe
unter diesem Begriff ausschließlich Nordamerika behandelt,[3] so sind in
der Neuausgabe gerade Kanada und die Vereinigten Staaten im Artikel
ausgenommen. Diese erhalten in den entsprechenden Bänden eigene
Einträge. Behandelt wird unter diesem Stichwort ausschließlich
Ibero-Amerika. Altamerika erhält gar einen seperaten Artikel.
Bemerkenswerte neue Stichwörter sind neben anderen: Afrika südlich der
Sahara, Biblische Musikinstrumente, Afroamerikanische Musik,[4] Blues
- erfreuliche Hinweise auf eine "veränderte Gewichtung von
Teilbereichen
und zugleich Öffnung des Faches".[5] In dem von Wilhelm Seidel
verfassten Artikel über Absolute Musik wird der wissenschaftliche
Erkenntnisgewinn gegenüber der alten Ausgabe besonders manifest.
Walter Wiora argumentierte noch unhistorisch, von einem rein
systematischen Verständnis her, und sah sich gezwungen, die Frage
aufzuwerfen: "Wie soll sich die Wissenschaft zu alledem verhalten".
Hier hat Dahlhaus doch eine deutliche und sicher unwiderrufliche Zäsur
gesetzt. Daneben gibt es allerdings auch Artikel, die überaus stark
von dem individuellen Forschungsschwerpunkt der Autoren geprägt sind
(die Literaturangaben geben darüber Aufschluß). Abendmusik etwa:
Schilderte der alte Text eher die Praxis, müht sich der neue Text
darum, die Nähe dieser Lübecker Institution zur Oper herauszustellen.
Eine gewisse praktische Anschaulichkeit, auch Faktisches, ging dabei
zu Lasten der Theorie verloren. Ebenso zeigt das Beispiel Barock, daß
die alte MGG nicht gänzlich überflüssig geworden ist. An die Stelle
der Darstellung Blumes, "die weder wiederholt noch verbessert oder
auch nur modernisiert werden" konnte (Vorwort, IX), trat eine
Reflexion über Epochenkonzepte. Daß freilich im Artikel
Aufführungspraxis nach wie vor mit dem so problematisierten
Epochenverständnis - "Musik des Barock und der Klassik" - hantiert
wird, ist denn wohl auch als Zugeständnis an die unausrottbare
populäre Begrifflichkeit zu interpretieren.
Über die Bedeutung der neuen MGG als legitimer Nachfolgerin des alten
Standardwerkes gibt es keinen Zweifel. "Wir wollen nur hoffen und
wünschen, daß das Unternehmen nicht das Schicksal mancher großer
Realenzyklopädien erleiden möge: jahrzehntelang auf den Abschluß
warten zu müssen", schrieb ein Rezensent nach Erscheinen des 2. Bandes
der alten Ausgabe.[6] Die Befürchtungen waren seinerzeit gerechtfertigt.
Die neue MGG verspricht dagegen in spätestens zehn Jahren vollständig
vorzuliegen. Der Sachteil in 8 Bänden soll bis 1998 abgeschlossen
sein, ein Registerband umgehend folgen. Das Erscheinen des
Personenteils in 12 Bänden ist für die Jahre 1998 bis 2004
projektiert.
Reiner Nägele
- [1]
- The new Grove dictionary of music and musicians / ed. by Stanley
Sadie. - London : Macmillian, 1980. - Vol. 1 - 20. - Vgl. ABUN in ZfBB
26 (1991),4, S. 299 - 303.
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- [2]
- Wenn Finscher schreibt, im Unterschied zur Konzeption des New Grove
finde sich in der MGG das Stichwort Arabische Musik, "in dem dieser
Begriff sehr weit gefaßt wird" (Einleitung, VII), so ist die
behauptete Differenz freilich bei vergleichender Lektüre - Arab music
im Grove - nicht mehr so eindeutig zu bestimmen.
(zurück)
- [3]
- Dies wurde bereits in einer sehr frühen Rezension kritisiert, siehe
Die Musikforschung. - 6 (1953), S. 261.
(zurück)
- [4]
- Allerdings geht die Tendenz der neuesten Forschung inzwischen
zunehmend zu dem Gebrauch des Terminus afrikanisch-amerikanisch über.
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- [5]
- Christoph-Hellmut Mahling in seiner Rezension des Bandes in Die
Musikforschung. - 47 (1994), S. 410.
(zurück)
- [6]
- Die Musikforschung. - 7 (1954), S. 82.
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