Geheimoperation Wicher

Um 1927 verzeichnen polnische Funkhorchstellen an ihrer westlichen Grenze immer wieder rätselhafte Funksprüche. Der polnische Nachrichtendienst beauftragt daraufhin das Code- und Chiffrierbüro BS-4 (Biuro Szyfrow) der »Deutschen Abteilung« des militärischen Geheimdienstes mit Untersuchungen. Tatsächlich gelingt es den Kryptologen vom BS-4-Büro relativ rasch, den Code der deutschen Reichswehr aus dem Handschlüsselverfahren zu brechen, doch als im Jahre 1928 der Schlüssel gewechselt wird, tappen sie wieder im Dunklen. Sie vermuten übrigens richtig, daß der neue Schlüssel mechanisch funktioniert. Sie besitzen zwar den Text des Patents von Dr. Scherbius und sogar ein regulär erworbenes Exemplar der Handels-Enigma, aber dies bedeutet kaum eine Hilfe bei der Entzifferung militärischer Funksprüche.

Kryptologe Jerzy Rozycki

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Im selben Jahr wird in Zusammenarbeit mit der Universität Posen mit Unterstützung des BS-4 ein Kursus für Kryptologen eingerichtet. Etwa 20 Studenten, die bereits an der mathematischen Fakultät studieren, nehmen an diesem geheimen Sonderlehrgang teil. Drei von ihnen zeichnen sich bald aus: Marian Rejewski, Jerzy Rozycki und Henryk Zygalski. Sie sind nicht nur äußerst begabte Mathematiker, sondern sprechen auch, wie viele Polen im Posener Land, fließend deutsch. Rejewski wird sogar auf Kosten des polnischen Geheimdienstes zum weiteren Studium an die Göttinger Universität beordert.

Jetzt kommt der Zufall dem BS-4 zu Hilfe. Anfang Januar 1929 hat — nach unbestätigten Berichten — der polnische Geheimdienst für gut 48 Stunden eine militärische Enigma in Händen: Eine vom Auswärtigen Amt in Berlin an die deutsche Botschaft in Warschau adressierte Enigma-Schlüsselmaschine, »sorgfältig in Stroh verpackt« — so der heute in England lebende Colonel Lisicki, polnischer Funkexperte und Nachrichtenoffizier —, wird eines Freitags aus der Paketabteilung des Warschauer Bahnzollamtes von BS-4-Experten übers Wochenende entnommen. Nach eingehender Untersuchung wird sie in der Nacht zum Montag wieder den Zollbehörden ausgehändigt.

Es ist eigentlich kaum denkbar, daß das Auswärtige Amt entgegen allen Sicherheitsvorschriften ein so streng geheimes Gerät per Bahnfracht an seine Botschaft in Warschau verschickt haben soll, besonders da auf der Strecke Berlin-Warschau mehrmals wöchentlich deutsche diplomatische Kuriere verkehren. Doch laut Colonel Lisicki verschafft die Überprüfung dieser Enigma dem BS-4 Einblick in die Schaltverbindungen der drei Chiffrierwalzen sowie in die zusätzlichen Steckerverbindungen für eine Doppelverschlüsselung. Ab l. September 1932 arbeiten die drei Kommilitonen als Team im BS-4 der »Deutschen Abteilung« der Kryptologischen Sektion des Polnischen Generalstabs. Nach polnischen Berichten soll es ihnen gelungen sein, bis Ende Dezember 1932 — in der überraschend kurzen Zeit von weniger als drei Monaten — den Enigma-Schlüssel zu knacken.

Unterdessen bemüht sich im Oktober 1932 ein Angestellter der Chiffrierstelle der deutschen Reichswehr, der sich Hans-Thilo Schmidt nennt, mit Capitaine Gustave Bertrand, dem Chef des Chiffrierbüros vom Service de Renseignement, Geheimdienst des französischen Generalstabs, Kontakt aufzunehmen. Unter dem Decknamen »Asche« liefert H.-T. Schmidt dem Franzosen strengvertrauliche Dokumente aus den höheren Stäben der Reichswehr, darunter Schlüsseleinstellungen für einen bestimmten Zeitabschnitt sowie Kopien von Funkkladden, aus denen sich nebeneinander gestellte Klartexte und Schlüsseltexte ergeben. So wechseln im Laufe der Zeit insgesamt 303 der wichtigsten Dokumente den Besitzer.

Im Dezember 1932 setzt sich Captaine Bertrand dann persönlich mit dem BS-4 in Verbindung. Neben dem Austausch aufgefangener Funksprüche und anderer nachrichtendienstlicher Erkenntnisse bietet Bertrand dem polnischen militärischen Geheimdienst etwas unschätzbar Wertvolles an: eine vollständige Liste aller Schlüsseleinstellungen der Enigma für zwei Monate im Herbst 1932, dazu geheime Heeresdienstvorschriften zur Benutzung der Schlüsselmaschine sowie vieles andere mehr. Dies erleichtert den drei jungen polnischen Kryptologen, die äußerst komplizierten Gleichungsserien zu lösen.

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Polnischer Zyklometer

Im Jahre 1934 beauftragt BS-4 unter höchster Geheimhaltung die Fernmeldefirma AVA Wytwornia Teletechniczna, Warschau, ul. Stepinska 25, mit dem Nachbau der rekonstruierten militärischen Enigma. Die Geräte sind zunächst recht primitiv, unterscheiden sich aber ab 1938 von der Original-Enigma nur noch durch einige Anordnungen von Teilen. Bis zum September 1939 werden 15 solcher Maschinen bei AVA gebaut.

Im Januar 1935 gelingt es den Polen, die Code-Funkschlüsselmaschine C der Reichsmarine zu brechen. Um die Tageseinstellungen der Schlüsselmaschine schnell zu lösen, benutzen sie zuerst eine Kartei, in der die Zahl und Zykluslänge aller möglichen Walzenlagen verzeichnet sind. Weil dieses Verfahren bei manuellem Betrieb noch viel zu zeitaufwendig ist, entwerfen die polnischen Mathematiker eine Reihe kryptologischer Hilfsgeräte. Eines dieser Geräte, der sogenannte »Zyklometer«, besteht aus zwei, durch die schaltbaren inneren Verbindungen verbundenen Walzensätze der Enigma, jedoch ohne Tastatur. Beim Herausfinden der einander entsprechenden Perioden leuchten Lämpchen auf und geben die Grundstellung des Tagesschlüssels an.

Doch im Oktober 1936 beginnen die Deutschen mit Änderungen: So wird z. B. die Doppelverschlüsselungsschalttafel erheblich vergrößert und ab 1937 die Verdrahtung der Chiffrierwalzen geändert. Die polnischen Kryptologen arbeiten eine Methode aus, mit der der Spruchschlüssel anhand der Textanfänge gelöst wird, und es gelingt ihnen — nach eigenen Angaben — ab Januar 1938, bei einem Test etwa 75 Prozent der aufgefangenen deutschen Funksprüche mit dem »Zyklometer« zu entziffern. Aber der Zeitaufwand für eine eventuelle operative Nutzung der entzifferten Funksprüche ist immer noch zu groß.

Am 15. September 1938, auf dem Höhepunkt der Münchener Krise, führen die Deutschen beim Heer und bei der Luftwaffe unerwartet ein neues Schlüsselsystem ein: Die bis dahin gesperrten 4. und 5. Schlüsselwalzen in den Schlüsselbereichen dieser Wehrmachtteile werden freigegeben. Von nun an können die drei Enigma-Schlüsselwalzen aus fünf verfügbaren ausgewählt werden. Das erhöht erheblich die Sicherheit des Enigma-Codes. Diese Tatsache wird sowohl in Paris als auch in Warschau als ein Schritt zur Mobilmachung gewertet.

Polnische Bomba

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Um die verschlüsselten Enigma-Meldungen zu entziffern, konstruiert Rejewski eine elektromagnetische Maschine, genannt »Bomba«. Im November 1938 wird die erste »Bomba« fertig. Die darin befindlichen Schlüsselwalzen durchläufen alle möglichen Buchstabenkombinationen für die drei Walzen, bis die richtige Einstellung gefunden ist, mit der eine Meldung auf den polnischen Enigma-Nachbauten entziffert werden kann. Da die Enigma mit drei benutzten Walzen sechs Walzenlagen ermöglicht, benötigt man sechs »Bomba«. Mit ihnen gelingt es, in weniger als zwei Stunden anhand von drei Paaren verschlüsselter Spruchschlüssel, in denen Ein-Buchstaben-Zyklen vorkommen, die Walzenlage und die Ringstellung des Tages herauszufinden. Mit Einführung der Walzen 4 und 5 wächst der Bedarf an »Bombas« von sechs auf sechzig, was auch eine weit größere Anzahl hochspezialisierter Fachleute für deren Bedienung erfordert. Doch BS-4 hat hierfür weder Zeit noch Etatmittel zur Verfügung.

In den Tagen vom 7. bis 9. Januar 1939 kommt es in Paris auf Initiative des energischen Capitaine Bertrand zu einer höchstgeheimen Konferenz der führenden französischen, polnischen sowie britischen Kryptologen und Vertretern der drei Geheimdienste. Aus Großbritannien reist unter anderem Commander Denniston, Leiter der Govemment Code and Cipher School, an, aus Polen kommen Oberst Langer und Oberst Ciezki, Frankreich ist durch Capitaine Bertrand und einen Kryptologie-Experten vertreten. Oberst Mayer, Chef des polnischen Nachrichtendienstes: »Auf dieser Konferenz wurde kein positives Ergebnis erzielt. Länger und Ciezki hatten den Eindruck, daß ihre Partner zwar offen und ehrlich waren, aber über die Enigma kaum etwas zu sagen wußten.«

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Polnischer Enigma-Nachbau

Ende des Jahres 1938 gelingt es den polnischen Kryptologen, bei der Entzifferung des Enigma-Codes einen Schritt weiterzukommen: Zygalski entwirft ein System mit 26 Lochkarten — je eine für 26 Buchstaben der Enigma — mit etwa 1000 Löchern vorgesehen, die aufeinandergelegt werden. Bei deren richtiger Anordnung kann man die Ein-Buchstaben-Zyklen herausfinden, die dann ihrerseits den Weg zur richtigen Walzenlage und Ringstellung weisen. Dies wiederum ermöglicht indirekt das Herausfinden der Steckerverbindungen der Enigma. Dieses Verfahren bietet zwar theoretisch die Lösung, ist jedoch wiederum viel zu umständlich und zeitraubend, um aus der Entzifferung irgendeinen operativen Nutzen zu erbringen.

Es läßt sich heute jedoch nicht mehr eindeutig feststellen, von welchem Zeitpunkt an und in welchem Umfang die polnischen Kryptologen den Enigma-Schlüssel wirklich lesen konnten, und um welchen Schlüssel es sich handelte.

Am l. Juli 1939 ändern die Deutschen wiederholt die Einstellung der Enigma. Und während sich am politischen Himmel schwarze Wolken zusammenbrauen, beschließt Oberst Mayer, sich an Polens Bundesgenossen Frankreich und England zu wenden. Auf seine und Oberst Langers Einladung hin treffen sich vom 24. bis 27. Juli 1939 im geheimen polnischen Entzifferungszentrum »Wicher« im Wald von Pyry, etwa 20 Kilometer südostwärts Warschau, Major Bertrand und der Kryptologe Captaine Braquenie sowie Commander Denniston, Chef der Govemment Code and Cipher School in England mit seinem Chefkryptologen Knox und einem Professor aus Oxford.

Sie berichten jetzt detailliert über ihre Arbeit an der Enigma und legen den verblüfften Gesprächspartnern ein exakt nachgebautes Modell der Schlüsselmaschine, ein AVA-Produkt, vor. Bertrand: »Ce fut un moment de stupeur! « — Ein Augenblick höchster Überraschung! Man arrangiert sich, von nun ab mit gemeinsamen Kräften die Codes der deutschen Schlüsselmaschine zu knacken: Die Polen sollen sich künftig weiterhin auf die Lösung der mathematisch-theoretischen Probleme konzentrieren, die Franzosen ihre äußerst wichtigen Agentenkontakte weiterführen, und die Aufgabe der Engländer ist es, sich mit der Entwicklung verbesserter Techniken und Maschinen für die schnelle Entzifferung der Tagesschlüssel zu befassen.

Oberst Langer und
Oberstleutnant Bertrand

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Das polnische Geschenk für die beiden Besucher-Teams: zwei polnische AVA-Nachbauten der Enigma, Blaupausen der »Bomba« und andere kryptographische Hilfsmittel. In der zweiten Augustwoche 1939 bringt sie ein polnischer Sonderkurier per Flugzeug über Skandinavien und Belgien nach Paris. Schon wenige Tage später, am 16. August 1939 reist Major Bertrand in Begleitung des offiziellen Kuriers der Britischen Botschaft in Paris nach London. Im Diplomatengepäck eine AVA-Enigma. Am Victoria-Bahnhof wird sie von Colonel Menzies höchstpersönlich in Empfang genommen.

Kaum drei Wochen später beginnt der Zweite Weltkrieg. Während deutsche Panzerspitzen in Richtung Warschau vorstoßen, wird in der ersten Septemberwoche das AVA-Werk unauffällig geräumt und das Entzifferungszentrum im Pyry-Forst samt der ganzen Einrichtung restlos zerstört. Den polnischen Kryptologen gelingt es zum größten Teil, sich sowohl vor der Wehrmacht wie auch vor der Roten Armee in das damals noch neutrale Rumänien oder nach Ungarn abzusetzen. Von dort aus gelangt Oberst Langer zusammen mit 15 polnischen Enigma-Experten, teils mit dem Orient-Express, teils mit einer Sondermaschine, zum französischen Aufklärungszentrum Vignolles in Paris.

Damit endet der große Einfluß der polnischen Kryptologen auf den Gang der Entwicklung und die weiteren Fäden werden beim OIC und der Government Code and Cypher School, besser bekannt unter dem Namen ihres Hauptsitzes in Bletchley Park, in England gewoben.

Funkaufklärung im 2. Weltkrieg (Frames)
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