Chronik des Jahres 1945


JANUAR 1945

Der letzte Akt des Krieges beginnt. Nahezu zweihundertfünfzig sowjetische Divisionen sind zum Sturm auf das Deutsche Reich angetreten. Es kann nur noch Tage dauern, bis sie die deutsche Grenze überrennen. Doch schon seit den ersten Januartagen gibt es kein Halten mehr. Keine Partei, kein Funktionär, kein Landrat und kein Bürgermeister kann die Menschen an der Flucht hindern, als die deutschen Truppen zurückweichen und die Front immer näher rückt.

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Noch sind in diesen Januartagen die Straßen nicht verstopft, der Fluchtweg nach Westen ist frei. Ganze Dörfer leeren sich. Endlos scheinende Trecks  bilden sich, Wagen an Wagen, vollbepackt bis obenhin, darauf Frauen, Kinder und Greise.

Die ersten Trecks erreichen Westpreußen, werden in Elbing aufgenommen, andere in Danzig und Gotenhafen. Aus dem nördlichen Ostpreußen ... bewegen sich die Trecks in Richtung Pillau, der Seestadt, die für die Königsberger zum "Tor der Freiheit" wird.

Am 9. Januar 1945 wird wird Hitler von General Gehlen und dem Chef des Generalstabes, Guderian, über die bevorstehende Winteroffensive der Roten Armee unterrichtet. Doch Hitler lehnt eine Verlegung weiterer Truppen an die Ostfront ab. Am 13. Januar beginnt der Angriff in den ostpreußischen Grenzgebieten, unterstützt von der sowjetischen Luftwaffe.

Bereits eine Woche später, spätestens am 22. Januar 1945, ist der Zugverkehr von Ostpreußen nach dem Reich auf allen Strecken gesperrt. Auch die Trecks kommen nun nicht mehr durch, denn am 27. Januar ist Ostpreußen bei Elbing abgeschnürt und nur noch durch die schmale Landbrücke der Frischen Nehrung mit dem Westen verbunden. ...

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Der Weg über vereiste Straßen und durch tosende Schneestürme ist nicht leicht. Die Frauen müssen es allein schaffen, denn die Männer sind beim Volkssturm. Die Pferde gleiten immer wieder aus, Wagen brechen zusammen. Es fehlt an Nahrungsmitteln, vor allem an Milch für die Kleinkinder.

Zum Drama der Flucht gehören zahllose Szenen der Verzweiflung und Not. Geradezu katastrophal gestaltet sich die Flucht der Ostpreußen über das Frische Haff und die Nehrung. Das Eis ist brüchig. ... An manchen Tagen kommt man nur drei bis fünf Kilometer vorwärts.

Ende Januar 1945 werden der Nordteil Westpreußens mit Danzig und der Halbinsel Hela sowie Ostpommern zum Auffangbecken und Durchmarschraum für die Flüchtlinge aus Ostpreußen und den westpolnischen Gebieten. Viele trecken weiter nach Pommern, ein Teil kann mit der Eisenbahn von Danzig oder per Schiff das Reichgebiet westlich der Oder erreichen. Abgesehen von diesen Flüchtlingen leben zu dieser Zeit etwa 3 Millionen Deutsche in dem Gebiet zwischen Ostpreußen und dem Unterlauf der Oder. (...) Obwohl im Gegensatz zur Provinz Ostpreußen für Westpreußen seit dem Herbst 1944 detaillierte Räumungspläne aufgestellt worden sind, wird ihre Ausgabe im Januar 1945 so lange verzögert, bis die Pläne durch die Ereignisse überholt sind. ... Russische Panzer erreichen diese Gebiete am 23. Januar auf ihrem Vorstoß nach Elbing und erfassen mehrere Trecks noch östlich von Nogat und Weichsel.

Im Brennpunkt der Fluchtbewegung stehen natürlich die Weichselübergänge bei Marienwerder und Dirschau sowie an der Nogat bei Marienburg. Erstaunlicherweise gelingt es etwa 80% der in Elbing zusammengedrängten Menschen, nach Danzig und Pommern zu entkommen, bevor die Stadt am 10. Februar von sowjetischen Truppen eingenommen wird.

Zur gleichen Zeit flüchteten auch die Deutschen aus Graudenz, Thorn und Bromberg. Die Wege sind überall verstopft und die Weichselbrücken bleiben den Wehrmachtskolonnen vorbehalten, so dass die Trecks über das Eis ziehen müssen. ... Am 25. Januar wird die Festung Posen eingeschlossen, allerdings erst nachdem ein Großteil der deutschen Bevölkerung per Eisenbahn evakuiert worden ist. (Posen kapitulierte erst am 23. Februar.)

Am 21. Januar gibt der Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine, GA Dönitz, seine Anweisung für die "Operation Hannibal". Im Januar transportiert die Kriegsmarine insgesamt 250.000 Menschen über die Ostsee: aus Libau 4200, aus Memel 19.400, aus Königsberg 25.000, aus Pillau 106.000, aus Danzig 21.500, aus Gotenhafen 58.200, aus Hela 850, aus Elbing 5000 und aus Swinemünde 150. Dabei gehen 12 Schiffe verloren, 12600 Menschen verlieren auf ihnen ihr Leben, die meisten davon allein bei der Katastrophe der WILHELM GUSTLOFF

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FEBRUAR 1945
Im Monat Februar verändert sich die Front, die entlang der Linie Graudenz - Zempelburg - Friedland - Stargard - Pyritz verläuft,
kaum. Doch die vierwöchige Kampfpause wird weitgehend nicht ausgenützt, um zu fliehen, denn die Einheimischen sowie viele Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen lassen sich durch die relative Ruhe dazu verleiten, in diesen Gebieten zu bleiben. Hinzu kommt, dass die Parteibehörden für ganz Pommern und das nördliche Westpreußen die Flucht der Bevölkerung ausdrücklich verbieten und in einigen Fällen die Weiterfahrt der aus Osten kommenden Trecks ebenfalls untersagen. Deshalb sind mindestens 2,5 Millionen Deutsche, ein Viertel davon Flüchtlinge, in Pommern und Danzig, als der neue russische Angriff in den ersten Märztagen beginnt.

 Im Februar transportiert die Kriegsmarine rund 450.000 Menschen über das Meer. Dabei gehen 17 Schiffe mit 59.155 BRT Transportraum verloren. 5100 Menschen werden das Opfer kriegerischer Angriffe auf die deutsche Schiffahrt. Von den großen Einheiten geht der Verwundetentransporter STEUBEN (14.660 BRT) mit 3600 Menschen verloren. 

MÄRZ 1945
Binnen zwei Wochen nehmen die sowjetischen Armeen - unterstützt von der 1. polnischen Armee - ganz Ostpommern in Besitz. Sie erreichen schließlich die Odermündung bei Stettin und schneiden die Fluchtwege ab. Viele Flüchtlinge trecken Richtung Kolberg, das nach Befehl Hitlers unter allen Umständen als Festung gehalten werden soll, um von dort aus entweder mit dem Schiff oder an der Ostseeküste entlang über Dievenow nach dem Westen zu kommen. ... Die Belagerung der Stadt Kolberg beginnt am 7. März, als sich etwa 80.000 Menschen dort aufhalten. Für sie gibt es nur ein Tor zur Freiheit: die Ostsee. Tag für Tag, Nacht um Nacht werden sie evakuiert, zuerst mit Passagierschiffen und Frachtern, zuletzt noch mit Fischkuttern, Motorbooten und Fährprähmen. Am 17. März erobert die Rote Armee die weitgehend verlassene Stadt.

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Für Tausende von Flüchtlingen, die vor der Umklammerung durch die Rote Armee nach Danzig strömen, wird dieses Ziel zum Verhängnis. Am 22. März gelingt den sowjetischen Truppen zwischen Danzig und Gotenhafen der Durchbruch an die Küste. Pausenlos werden die Menschen durch die Flotte der Flüchtlings- schiffe evakuiert, täglich zu mehr als Zehntausenden. Doch als Danzig am 27. März besetzt wird, sind noch etwa 200.000 Einheimische und Flüchtlinge in der Stadt. 

Im März transportiert die Kriegsmarine wiederum etwa 500.000 Menschen über die Ostsee. Dabei verliert sie 36 Schiffe mit 116.000 BRT. Nur 1200 Menschen fallen Luftangriffen auf die Schiffe zum Opfer. Aber gleich drei große Passagierdampfer (HANSA, HAMBURG und CORDILLERA) gehen der Flüchtlingsflotte verloren.

APRIL 1945
Nachdem Danzig und Gotenhafen von der Roten Armee besetzt sind, ist die kleine Halbinsel Hela der letzte Absprungpunkt für die Bevölkerung und die Flüchtlinge in Pommern. Zwei Häfen stehen zur Verfügung, der Fischereihafen für die Zivilbevölkerung und der Kriegshafen für die Truppen und die Verwundeten. Die größeren Schiffe müssen auf der Reede von Hela außerhalb des Hafen ankern, der Wassertiefe wegen und um den sowjet. Luftangriffen besser ausweichen zu können. Die meisten Transporte mit Flüchtlingen aus dem Baltikum und Ostpreußen treffen in der Nacht und den frühen Morgenstunden in Hela ein. Es gibt Tage, an denen 60.000 Menschen gelandet werden. Die Unterbringung ist nur provisorisch zu regeln.

Die Lazarette, Schulen, Kasernen, Baracken und größeren Gebäude bleiben den Ärzten und Schwerverwundeten überlassen. Sie haben Vorrang auf den Transportschiffen, auch um rasch wieder Platz zu schaffen. Kleinere Gebäude werden zur ambulanten Versorgung kleiner Kinder und für Greise freigehalten. 

Allen anderen Flüchtlingen wird Quartier in den mit Kusseln bestandenen Dünen angewiesen, militärisches Personal und Volkssturmbataillone werden im Waldgelände untergebracht, wo sie vor den sowjetischen Luftangriffen am besten Sichtschutz finden.

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Zur Verpflegung werden allerorts Küchen und Waschkessel beschlagnahmt, in denen morgens, mittags und abends Suppe gekocht wird. Die Verpflegungsämter des Heeres sorgen für die Lieferung von Bohnen, Erbsen und Kohl und Fleisch, das aus den Schlachthöfen der Danziger Niederung nächtlich herbeigeschafft wird. Dort werden tagtäglich Flüchtlingstrecks aufgelöst und daraus Pferde und Zuchtvieh in großen Mengen zum Schlachten freigegeben. Um auffällige Menschenansammlungen zu vermeiden, werden zahlreiche Essenausgabestellen geschaffen, indem Badewannen aus Privatwohnungen beschlagnahmt und an geschützten Stellen im Wald aufgestellt werden. Sie werden dort eingemauert und befeuert, um in ihnen das Essen über längere Zeit warm zu halten.

Die schwierigste Aufgabe aber ist der Abtransport der sich auf Hela stauenden Massen. Die Bewegung der Dampfer muss den Russen möglichst verborgen bleiben. Anderweitig setzen sofort Fliegerangriffe ein, die die Passagiere auseinander treibt und alle zuvor getroffenen Vorbereitungen und Anweisungen zunichte machen. Im April gehen  vor Hela drei Dampfer mit 1800 Menschen durch Bombenangriffe verloren. Ende April warten auf Hela noch 200.000 Menschen auf ihre Weiterfahrt. Doch bis zur Kapitulation bleiben nur noch wenige Tage.

Insgesamt transportiert die Kriegsmarine im April mehr als 600.000 Menschen über die Ostsee. Dabei verliert sie 51 Schiffe mit 160.000 BRT. Insgesamt fallen mehr als 10.500 Menschen Angriffen auf deutsche Schiffe zum Opfer.  Das größte Unglück im April trifft den Transporter GOYA, der am 16.4. mit 6600 Menschen durch einem U-Bootangriff vor Stolpmünde versenkt wird.

MAI 1945
Die letzten Kriegstage im Mai sind gezeichnet durch die Katastrophe des Passagierdampfers CAP ARCONA, der zusammen mit der DEUTSCHLAND und der THIELBEK in der Bucht vor Neustadt / Holstein liegt, um 10.000 Gefangene des Konzentrationslagers Neuengamme an Bord zu nehmen und sie einem nicht weiter aufklärbaren Schicksal zuzuführen.

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Am 3. Mai nehmen 8 Bomber der 263 Sqn RAF die in der Bucht liegenden Schiffe ins Visier und zerstören sie mit Raketen. Ihr Operationsbefehl lautete: "Luftaufnahmen zeigen ausgedehnte feindliche Schiffsbewegungen, auslaufend aus Häfen Schleswig-Holsteins. Das Ziel ist es, diese Schiffsansammlungen während des ganzen Tages in dem Gebiet westlich der Insel Poel zu zerstören."

Den am selben Tag in Neustadt einrückenden britischen Panzertruppen bietet sich ein chaotisches Bild: Drei brennende Schiffe in der Neustädter Bucht. Am Strand angeschwemmte sowie ziellos umherirrende KZ-Häftlinge unterschiedlicher Nationen. Und es gibt auch einige, die am Strand erschossen worden sind ...

Englische Kriegsgerichte haben mehrfach Anläufe unternommen, deutsche Offiziere für die Vorgänge verantwortlich zu machen. Nachdem ihnen eine Schuld im Sinne des Strafrechts nicht nachzuweisen war, wurden die Akten geschlossen. Über den Sinn und die Effektivität alliierter Luftangriffe auf die deutsche Flüchtlingsflotte wurde auch nach dem Krieg niemals Rechenschaft verlangt oder abgegeben.

Noch im Mai werden annähernd 300.000 Menschen über die Ostsee gebracht. 45 Schiffe mit insgesamt 163.000 BRT gehen verloren. Abgesehen von den 8000 Opfern der Katastrophe in der Neustädter Bucht verlieren in diesem Monat nur noch 255 Menschen bei der Flucht über See ihr Leben.

In Dänemark befinden sich bei Kriegsende etwa 250 Tausend deutsche Flüchtlinge, ein Drittel davon Kinder unter 15 Jahren. Bei der massenhaften Zuführung von Flüchtlingen aus Ostdeutschland hat niemand damit gerechnet, das ihre große Anzahl das Land rasch überfordern würde. Nachdem sich die nationalsozialistische Regierung unter Großadmiral Dönitz unwillig zeigt, die Flüchtlinge nach Deutschland zu holen und im Gegenzug inhaftierte Dänen freizulassen, zieht die Regierung in Dänemark die Konsequenz. Ab 5. Mai werden die deutschen Flüchtlinge von der Umwelt abgeschlossen, ihre Lager werden mit Stacheldraht umgeben. Sie dürfen die Lager nicht mehr verlassen, auch nicht um Lebensmittel einzukaufen, sondern werden abhängig von unzureichenden Essensrationen, die ihnen staatlich zugeteilt werden. Allein 1945 sterben in den Lagern über 11 Tausend deutsche Flüchtlinge an Unterernährung und Krankheiten. Die dänische Ärztevereinigung verweigert den Flüchtlingen jede medizinische Hilfe. Im August 1945 werden die letzten Soldaten aus deutschen Lazaretten in Dänemark entlassen und in die Heimat geschickt. Das medizinische Personal aber muss - gegen seinen Willen - in Dänemark bleiben und als Sanitätspersonal in den Flüchtlingslagern arbeiten, ohne Lohn und interniert wie die Flüchtlinge selber.

BILANZ
Insgesamt wurden mehr a
ls zweieinhalb Millionen Menschen über die Ostsee gerettet. Ca. 37.000 Kinder, Frauen und Männer mussten unmittelbar dabei ihr Leben lassen. Den Menschen, die mit Hab und Gut über Land flüchteten, ging es sehr viel schlechter. Dem Andenken der Flüchtlinge und ihrer Retter widmet sich seit 60 Jahren das Ostsee-Archiv Heinz Schön in Bad-Salzuflen.